nichts als die wahrheit
Gregor begann. Bei seiner Mutter hatte es meistens kaum fünf Minuten später eins hinter die Ohren gegeben. Und bei Beate versprach das eine Debatte, die selten vor Mitternacht endete.
»Paul.« Er hob das Glas hoch, zeigte darauf und hielt Lisa, die ausnahmsweise mal guckte, zwei ausgestreckte Finger hin – obwohl Bremer sein Bier kaum angetastet hatte.
»Also wo tut’s weh?«
»Verpaß ich was im Leben?«
Gregor Kosinski starrte seinen Freund verblüfft an. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet.
»Ich meine: Ist es nicht eine natürliche menschliche Neigung, Erfolg, Macht und Ruhm anzustreben?«
»Wieso? Du kannst doch ganz gut leben von deiner Schreiberei. Und für die Rechnungen deines Weinlieferanten reicht es offenbar auch noch.«
»Ich meine: Muß da nicht noch mehr sein? So in Richtung Anliegen und Aufgabe?«
»›Frag nicht, was dein Land für dich tun kann. Frag, was du für dein Land tun kannst.‹ John F. Kennedy.« Kosinski ließ jedes Wort dieses altgedienten Spruchs fallen wie eine heiße Kartoffel. »Wie wär’s mit der Freiwilligen Feuerwehr?«
Bremer mußte grinsen. »Komm, mach dich nicht lustig. Die nehmen nicht jeden. Es ist nur …« Er hob hilflos die Hände und ließ sie auf die Tischplatte fallen. Dann sah er Kosinski in die Augen.
»Muß ich mir – oder dir – oder irgend jemandem noch etwas beweisen?«
So meinte er das also. Kosinski dämmerte langsam, was seinen alten Freund umtrieb. Er legte die Hände ums Bierglas – das war ja offenbar zur Zeit der einzige noch erlaubte Genußgegenstand, an dem sie sich festhalten konnten – und räusperte sich. Irgendwie kam ihm die Debatte bekannt vor. Er hatte sie mit Beate geführt, jahrelang. Beate war die Verkörperung der Frage »Soll das schon alles gewesen sein im Leben?«.
»Wie man’s nimmt.« Er räusperte sich wieder und nahm einen Schluck Bier.
»Guck dir Otto Grün an. Der hat seine Arbeit, der hat sein Auskommen, den respektiert jeder und der wird irgendwann friedlich sterben. In der Stadt würde er als Tierarzt bei all den Pudeln und Hauskatzen das Dreifache verdienen. Aber hier« – er zuckte mit den Schultern.
»Hier ist er glücklich«, sagte Bremer.
Kosinski sah ihn scharf an. Glücklich? »Zufrieden, würde ich sagen.«
Bremer nickte mit dem Kopf und sagte dann langsam: »Nimm Erwin. Meinen Nachbarn.«
Kosinski kannte den Mann: Intelligent. Arbeitslos. Alkoholiker.
»Er säuft sich alle paar Wochen die Hucke voll, hockt ansonsten in seiner Fachwerkhütte vor dem Großbildfernseher und hat sich kürzlich einen Minitrecker zum Schneeschieben gekauft. Von der Sozialhilfe.«
»Schnee? Wann habt ihr da unten in Klein-Roda denn mal Schnee?«
»Eben. Aber er gönnt sich ja sonst nichts.«
Kosinski grinste in sich hinein. Erwins Hang zu aufwendigem Gartengerät war bekannt. Von Frühjahr bis Herbst thronte er mindestens zweimal die Woche auf seinem besteigbaren Rasenmäher; man sah ihm die Lust an, die es ihm bereitete, in sauberen Bahnen über den mit Hingabe gepflegten Rasen zu fahren.
Erwin war das Paradebeispiel für Kosinskis Theorie über den Unterschied zwischen Stadt und Land.
Nein, die Stadt war nicht der Sündenpfuhl, für den die meisten seiner Nachbarn sie hielten – und das Dorf nicht die Idylle, an die ein Städter glauben mochte. Aber wer das Landleben nicht kannte, machte sich falsche Vorstellungen vom durchschnittlichen Glück der Bundesbürger. Auf dem Land konnte man auch von Stütze oder Frührente gut leben – den meisten gehörte das Häuschen, in dem sie wohnten. Außer einem Fernseher brauchte man keine teuren Einrichtungsgegenstände. Aushilfsjobs, genannt Nachbarschaftshilfe, gab es genug. Das Kaminholz kam aus dem Wald, das Gemüse aus dem Garten, und für Abwechslung sorgten die Jahreszeiten. Wer nicht unter Erfolgsdruck stand, keine Großkinos oder die Oper brauchte und dem Quelle-Katalog traute, konnte auf dem Land besser leben als in der Stadt. Das fanden sogar die Städter. Man denke an Frau Doktor. Oder, bis vor kurzem jedenfalls, an Paul Bremer.
»Willst du zurück in deine Werbeagentur, Paul?« Kosinski grinste in das Gesicht des Freundes, der theatralisch Abscheu und Empörung mimte.
»Ich will hier begraben werden!«
»Hast du’s eilig damit?«
Bremer sah auf und seufzte tief. »Nein. Und deshalb will ich hier auch nicht lebendig begraben sein.«
Da lag der Hase im Pfeffer. »Die Frage nach dem guten Leben wird von jedem anders beantwortet, Paul. Du mußt
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