nichts als die wahrheit
oder ihr die Gesetzeslage erläutert oder ihr einen Telefonanruf erlaubt – den Anruf beim Anwalt.
Niemand hatte mit den Handschellen geklimpert.
Warum fühlte sie sich dann schuldig? Nicht nur an Lillys, auch an Zettels Tod? Was zum Teufel hatte das mit ihr zu tun?
Anne zitterte noch immer, als sie die Decke zurückschlug, auf nackten Füßen zum Fenster ging und die Läden öffnete. Noch stand die Morgenröte am Horizont. Der Himmel war blaß, eine dünne Mondsichel neigte sich über den Rand des alten Pferdestalls. Mit lautem Räuspern sprang unten am Löschteich ein Traktor an. Der Weiherhof erwachte.
3
Frankfurt am Main
»Ich bewundere Ihren Spürsinn, Frau Kollegin.«
Schau an, dachte Karen. Kaum hat der liebe Kollege Manfred Wenzel zu alter Form zurückgefunden, hat er schon wieder Oberwasser.
»Zu Recht.« Sie guckte ebenso spöttisch zurück. »Sie sind ja wohl der erste, der zugeben würde, daß die statistische Wahrscheinlichkeit gegen die Täterschaft einer Frau sprach.«
»Na klar – wo doch Frauen meistens die Opfer sind.« Manfred Wenzel verneigte sich leicht. »Zwar nicht statistisch gesehen – aber historisch-moralisch …«
»Ach kommen Sie, Wenzel.« Wenigstens nannte er sie nicht mehr beim Vornamen. Trotzdem war ihr unbehaglich angesichts seines heiteren Gesichts. Er war erleichtert, er war bester Laune. Er glaubte seinen Freund Bunge weißgewaschen von aller Schuld. Sie zerstörte nur ungern seinen Glauben.
»Zum Fall Bunge.« Der ihres Erachtens nicht eigentlich ein Fall genannt werden konnte. Wenzel nickte und stützte das Kinn auf den Zeigefinger. Eine irritierende Angewohnheit.
»Wir können davon ausgehen, daß es ein Journalist vom Journal namens Peter Zettel war, der die Nachricht gefälscht und lanciert hat, die Alexander Bunges Ruf ruinieren sollte.«
»Männer«, sagte Wenzel heiter. »Da sieht man’s wieder …«
Karen war für einen Moment sprachlos. Wo hatte der sonst so nüchterne Kollegen seinen sonst so klaren Verstand geparkt?
»Was macht man in einem solchen Fall?« Sie versuchte, ihm die Sache vorsichtig beizubiegen. »Man sitzt es aus. Man wartet, daß der andere Beweise liefert. Bunge war ja offenbar keine Mimose, die um ihren Ruf fürchtete. Er machte keinen Hehl daraus, daß er homosexuell war. Er hätte das alles als die üblichen schwulenfeindlichen Verleumdungen abtun können.«
»Deshalb habe ich ja auch nicht geglaubt, daß er sich wegen so etwas …« Manfred Wenzel war schon etwas weniger heiter.
»Aber es gibt keinen anderen Grund, von dem wir wüßten.« Karen breitete die Hände aus, als ob sie sich bei ihm entschuldigen müßte. »Keine finsteren Machenschaften auf dem Berliner Immobilienmarkt. Keine dunklen politischen Verschwörungen. Alexander Bunge ist gesprungen – aus rein persönlichen Motiven.«
Das war ihr Credo schon immer gewesen: Was wie Selbstmord aussieht, ist auch meistens einer. Und sogar Kapitalverbrechen haben ihre Wurzeln im Allerpersönlichsten. Mord und Totschlag aus kühlem materiellen Kalkül waren seltener, als die Öffentlichkeit glauben wollte.
»Peter Zettel war ein Erpresser, kein Lügner. Keine einzige der Informationen, die er gesammelt hat, war, soweit man das jetzt schon wissen kann, erfunden. Er hat offenbar immer die Wahrheit gesagt.«
Sie sah nicht hin zu ihm.
»Natürlich«, sagte Wenzel mit scheinbar unbeteiligter Stimme. »Sonst gäbe es ja auch nichts zu erpressen.«
Karen atmetete tief durch. »Die Meldung war gefälscht. War sie aber auch falsch?«
Jetzt sah sie doch zu ihm hinüber. Manfred Wenzel starrte mit unbewegtem Gesicht aus dem Fenster. Karen versuchte mitleidlos zu sein.
»Kennen Sie seine Frau?«
»Edith? Sicher. Sie ist eine hervorragende Strafverteidigerin.«
Typisch Wenzel. Nach ihren beruflichen Qualitäten hatte sie ihn nicht gefragt.
»Sie ist die Mutter seiner Kinder. Hätte sie ihm verziehen, wenn sie erfahren hätte, daß er päderastischen Neigungen nachgeht?«
Er sah sie nicht an. Das war auch besser so. Sie wußte nicht, was er in ihrem Blick würde lesen können. Mitleid? Ekel? Wahrscheinlich beides.
Nach einer Weile nickte er müde mit dem Kopf. »Ich kann das alles noch immer nicht glauben. Alexander hatte Anstand. Ich weiß, das klingt pathetisch, aber …«
»Natürlich hatte er Anstand. Leute ohne Anstand merken gar nicht erst, wann sie dagegen verstoßen.« Sie hob die Schultern. »Ein skrupelloser Mensch hätte sich nicht umgebracht. Nicht – wegen
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