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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Zigarette, in der anderen ein Glas. Wie damals in Bonn, vor einem Jahr, als sie sich kennenlernten, in seiner Wohnung, kurz bevor …
    Und plötzlich war damals. Plötzlich war seine Stimme ganz nah. Glasklar und schneidend scharf.
    »Du bist doch das Modell vom vergangenen Jahrhundert.«
    Und dann wurde es hell vor ihren Augen. Es war, als hätte ihre ohnmächtige Wut das Licht angeknipst, jetzt sie sah ihn wirklich, sie sah sein spöttisches Lächeln, sie sah ihn wippen, wippen mit dem Fuß – am Rande des Abgrunds. Am Rande des Kraters, tief unten im Bunker unter den Ministergärten. Und sie – sie wollte ihm sein freches Grinsen vom Gesicht fegen. Sie lehnte sich vor. Plötzlich hielt er eine Pistole in der Hand anstelle der Zigarette. Ihr Körper spannte sich in Erwartung des Schusses. Und dann sah sie ihn fallen.
    Sie rang nach Luft. Sie sah ihn fallen. Sie hatte ihn doch fallen sehen? Hinunter in den tiefen Schacht, in dem das Wasser schwarz schillerte, wo er aufschlug, halb auf dem Trockenen, mit ausgebreiteten Armen, wie ein gestrandeter Vogel, und mit weißer, weit nach hinten gebogener, dargebotener Kehle.
    Oder war es die Frau, die fiel? Die Frau, die ihr zuflüsterte: »Wer sich erhebt, fällt tief«?
    Plötzlich ging ihr Atem leichter, sie spürte den Wind im Haar, sah aus den Augenwinkeln, wie die Menschen um sie herumstanden, regungslos. Die Frau hatte eine schwarze Handtasche unter dem Arm. Und eine Pistole in der Hand.
    »Spring! Das haben schon ganz andere geschafft!«
    Sie hatte gelächelt dabei. Anne stöhnte auf.
    Sie wollte etwas sagen. Sie mußte etwas sagen. Es gab ein Wort, ein Zauberwort, und wenn man es aussprach …
    Ihr tat die Kehle weh. Sie kriegte die Zähne nicht auseinander, den Mund nicht auf »Spring!« höhnte die andere.
    Und schließlich hörte sie, wie sie es sagte. Sie sagte es, leise nur, kaum hörbar.
    »803157.«
    Die andere sah sie entgeistert an. Anne versuchte es noch einmal, lauter.
    »803157. Die Seriennummer. Hat das Ding auch die richtige Seriennummer?«
    Sie sah in Zeitlupe, wie sich der blonde Kopf langsam senkte. Sie sah den perlenbesetzten Kamm vor sich, mit dem Lilly E. Meier sich das Haar aus dem Gesicht steckte. Sie fragte sich, warum sie heute nur einen Kamm trug. Und wo sie den anderen kürzlich gesehen hatte. Dann dachte sie: Jetzt. Jetzt mußt du handeln.
    Mit einem Schlag war sie hellwach. Sie setzte sich auf und zog sich die Bettdecke mit beiden Händen bis unter das Kinn. Sekundenlang wußte sie nicht, wo sie war. Im Traum war sie im Bunker gewesen und hatte Peter Zettel fallen sehen – und im nächsten Moment stand sie hoch auf dem Reichstag, auf der Terrasse, auf der Mauer um die Terrasse herum. Und dann fiel Lilly.
    Ihr war eiskalt. Um sie herum klirrte die Stille. So still war es auch gewesen, als Lilly fiel. Sie war lautlos gefallen.
    Und kein Lufthauch hatte sich geregt. Nichts regte sich, als Anne plötzlich allein dort oben stand. Erst nach einer unendlich langen Zeitspanne war der Film weitergelaufen, Menschen kamen auf sie zugerannt, die sie gar nicht kannte, man half ihr herunter von der Balustrade, fragte sie »Was ist passiert?« und »Was haben Sie getan?«.
    Ihr Nachthemd war naß vom Schweiß. Sie hatte diese Frage nicht verstanden. Sie hatte nicht begriffen, was sie in Karen Starks Gesicht sah. Die Staatsanwältin war mit fest zusammengepreßten Lippen auf sie zugekommen, hatte distanziert, förmlich gewirkt. Seltsamerweise war ihr aufgefallen, daß Karens Kostüm nicht richtig saß und daß seine Farbe nicht zu ihrem roten Haar paßte. Sie erinnerte sich an Karens ausgestreckte Hand, an ihre Fingernägel, die auch mal wieder frischen Nagellack gebrauchen könnten …
    Und dann zog Karen ihre Hand wieder zurück. Diese Geste sagte mehr als alles andere. Und als ein Saaldiener sie beide hinuntergeleitete, außer Reichweite der Journalistenmeute, dorthin, wo sie ungestört miteinander reden könnten, wie Karen Stark sich ausdrückte – »Ich hätte da ein paar Fragen an Sie, Frau Burau« –, da hatte sie das Gefühl beschlichen, daß die andere gleich »Sie sind verhaftet!« sagen und daß sie abgeführt werden würde.
    Anne zitterte vor Kälte und zog sich die Decke enger um die Schultern. Alles Einbildung. Und Abgeordnete konnte man auch nicht einfach festnehmen. Weshalb niemand sie daran gehindert hatte, noch in der Nacht nach Hause zu fahren, nach Hause in die Rhön. Zum Weiherhof.
    Niemand hatte von einem Verdacht gesprochen

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