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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Stammtisch war schon besetzt. Den in der Mitte kannte er, den Mann mit den sorgfältig nach hinten gekämmten dunklen Haaren. Ob der dicke Berninger sie färbte? Auch er wurde schließlich nicht jünger. Der Mann hatte Fliesenleger gelernt, war eine Zeitlang als Vertreter gereist und lebte seit seinem 50. Geburtstag vom Couponschneiden – oder wie man das heutzutage nennt.
    Beneidenswert? Wie man’s nimmt, dachte Kosinski, der seinen Beruf eifersüchtig verteidigte gegen Anfechtungen aller Art. Das Angebot, ihn auf einen etwas besser bezahlten Schreibtischjob zu versetzen – »da kannst du kürzer treten, Gregor« –, hatte er vor zwei Monaten mit Worten abgelehnt, die man durchaus als Beleidigung hätte auslegen können. Die letzte Anfechtung war ihm in Gestalt von Beate erschienen, die nie um eine Schnapsidee verlegen war. Zu Weihnachten hatte sie ihm von einem »Sabbatical« und einer Weltreise vorgeschwärmt.
    Ich glaub, es piept, dachte Kosinski.
    Er grüßte zu Berninger hinüber. Nach dem dritten Glas Bier auf der Kirmes hatte der ihm vor einigen Jahren mal verraten, wie er zu seinem Reichtum gekommen war.
    »Also mit Fliesenlegen schaffst du das nicht!« hatte Berninger fachmännisch gesagt – so, als ob Kosinski sich brennend für diesen Berufszweig interessierte, wegen der guten Aussichten.
    »Das geht nur mit Köpfchen!« Und dann hatte er seine Stimme gesenkt.
    »Mein erster Ausbilder war ein ganz ein Schlauer, ein Jud’ war das. Der hat mich als jungen Burschen beim Lesen der Bildzeitung erwischt. Am nächsten Tag hat er mir die FAZ auf den Tisch gelegt. ›Den Wirtschaftsteil studieren‹, hat er dazu gesagt, ›jeden Tag. Und dann sparen, sparen, sparen. Und das Geld klug anlegen.‹« Berninger hatte genickt und in sich hineingelächelt.
    »Ich hab’ mich dran gehalten. Und ich hab’ es nicht bereut. Und ich denke jeden Tag an den alten Henry.«
    Na so was. Der alte Henry. Kosinski wußte bis heute nicht, wie man »Hausse« und »Baisse« richtig aussprach. Hatte er da was versäumt?
    Er ging zum Tresen, um schon mal zwei Alsfelder vom Faß zu bestellen. Er mußte kräftig auf die Theke klopfen, damit Lisa ihn überhaupt wahrnahm. Ganz rote Wangen hatte sie, so heftig flirtete sie mit dem jungen Maik aus Altenzeil. Kosinski guckte auf seine Uhr. Er war zwei Minuten zu früh. Bremer würde höchstens zwei Minuten zu spät kommen. Die ideale Zeit für ein ordentliches Pils – wenn man kein Sektierer von der Sieben-Minuten-Fraktion war.
    Der Tisch für zwei am Fenster schien ihm der passende Ort zu sein für ein ungestörtes Männergespräch. Auf der geblümten Decke aus Plastikstrick stand ein runder brauner Gebrauchsgegenstand, den er bis vor kurzem noch als guten Freund begrüßt hätte. Heute schob er ihn beiseite. Er brauchte keinen Aschenbecher mehr, nie mehr, wenn es nach Beate, dem Arzt, den jüngeren Kollegen und seinem Verstand ginge. Und bislang, toi, toi, toi!, hatte seine Leitzentrale noch jedesmal strammgestanden wie die Wacht am Rhein, wenn es ihn wieder einmal in den Fingern juckte. Vielleicht war er ja sogar schon längst immun, gefeit gegen jede Versuchung?
    Versuchsweise stellte er sich vor, wie er eine Reval aus der zerknitterten gelben Packung fischte. Wie er die Zigarette glattstrich, an ihr roch, sie in den Mund steckte, sie anzündete … Und dann – einatmen. Kosinski atmete ein.
    Tief.
    Und dann aus.
    Und dann noch mal ein.
    Und dann …
    Als der Hustenanfall verebbte, saß Bremer neben ihm.
    »Sag jetzt nichts«, ächzte Kosinski.
    Paul schüttelte den Kopf. »Niemals. Aber gegen einen Hustenanfall hilft erfahrungsgemäß immer …«
    »Die nächste Zigarette, schon gut.« Kosinski setzte sich wieder aufrecht und nahm einen tiefen Schluck aus dem Bierglas.
    »Seit wann gibst du eigentlich schon den Helden?« Bremer tat gönnerhaft, wie jeder, der einen Nikotinentzug noch nicht nötig gehabt hatte.
    »Seit zwei Monaten.«
    »Und – schon zugenommen?«
    Herzloser Bastard, dachte Kosinski, als er wahrheitswidrig den Kopf schüttelte.
    »Kommt noch«, sagte Bremer ungerührt.
    »Und dir Ausbund an Mitgefühl soll ich den Seelentröster machen?« Kosinski merkte irritiert, daß ihm die Stimme einen Halbton höher gerutscht war.
    Bremer starrte in sein Glas und war plötzlich gar nicht mehr aufgekratzt. »Gregor«, sagte er.
    So standen die Dinge also. Kosinski lehnte sich resigniert zurück. Es hieß nichts Gutes, wenn eine Konversation mit der Anrufung des heiligen

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