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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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unschlagbar wie früher. Aber es gab ihn noch, den alten Zauber – den uralten Zauber von Wald und Wiesen und Sonne und Wind, vom Rücken eines Pferdes aus gesehen.
    Für eine kostbare halbe Stunde gelang es ihr, den Traum zu verdrängen, der ihr seit heute morgen durch den Kopf ging. Den Traum – und die Wirklichkeit, mit der die Traumbilder immer wieder verschwammen. Sie sah Lilly vor sich, wie sie den Kopf senkte. Sah den Kamm in ihrem Haar stecken – einen von zweien. Das war die Wirklichkeit. Auch, daß ihr in diesem Moment klargeworden war, daß er zu dem anderen Kamm paßte – zu dem, den sie im Bunker gefunden hatte, am Rande des Kraters, in dem Zettels Leiche lag. Auch das war Wirklichkeit gewesen.
    Ebenso wirklich wie die Todesangst, die sie überfiel, in dem Augenblick, in dem sich das letzte fehlende Teil ins Puzzle fügte. Die Frau, die da mit wehenden blonden Locken auf dem Reichstag stand, war ihre Gegnerin auf Leben und Tod. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ihr Körper alles mobilisiert, was er zum Kampf benötigte. Sie hatte … Die Bilder verschwammen. Was genau war geschehen, bevor Lilly fiel?
    Bucephalos wieherte leise. Spürte er, wie nahe ihr die Erinnerung ging – an das Gesicht der anderen? Lillys Kopf war hochgeschnellt, sie hatte Anne in die Augen gesehen, mit gerunzelten Brauen und einem Ausdruck im Gesicht, der ihr noch in der Erinnerung Schauer über den Rücken jagte.
    Hatte Lilly nach ihr zu greifen versucht, bevor sie die Balance verlor? Hatte sie sich an ihr festhalten wollen?
    Ihre Lippen waren ein schmaler Strich gewesen in dem blassen, ungeschminkten Gesicht, in dem Wut und Verzweiflung zu lesen waren. Und etwas anderes. Etwas ganz anderes. Anne versuchte, sich die Szene bis ins Detail vor ihr inneres Auge zu holen. Was mochte Lilly empfunden haben, als sie – lächelte, bevor sie fiel?
    Bucephalos schlug ohne zu zögern den Weg ein, den sie immer nahmen. Sammy trottelte hinter ihnen her, während die beiden Schwarzen die Vorhut machten, die Nasen in die Luft und die Ruten in die Höhe gestreckt. Wenn das die Wirklichkeit war – was war dann bloß geträumt? In ihrem Traum hatte sie Peter Zettel gesehen, in ihrem Traum war er gestorben wie Lilly – hatte die Balance verloren, als …
    Plötzlich sah sie nicht sich, sondern Lilly dort unten in der Dunkelheit stehen, neben Peter; sah sie greifen nach dem, womit er sie womöglich gelockt und geneckt hatte – wonach? Im Traum hatte Peter eine Pistole in der Hand gehabt. Und in der Wirklichkeit?
    Hatte sich Lilly von Zettel nicht nur an die Stätten seiner Obsession und damit an die Quelle seines Nebenverdienstes führen lassen, hatte er ihr womöglich auch das Prunkstück seiner Sammlung gezeigt? Die legendäre Walther PPK des Führers? War Lilly schlicht und ergreifend hinter jenen drei Millionen Dollar her gewesen, die, wenn man Jon glauben konnte, das seltsame Souvenir heute auf dem Markt der Idioten, Fanatiker und Spinner wert war? War es das, was sie antrieb?
    Oder hatte Peter Zettel Lilly Meier gequält? Erpreßt? Provoziert? Welche Gemeinheiten hatte er ihr zugeflüstert? Anne beugte sich tief über den Pferdehals, unter die Zweige der Buche, die über den Waldweg ragten. Sie sah sein weißes Gesicht vor sich, seinen weißen Hals, die ausgebreiteten Arme. Hatte er noch gelebt, als er unten aufprallte? Oder hatte sich alles so lautlos abgespielt wie oben auf dem Reichstag – eben hatte Lilly E. Meier noch dort gestanden, mit der Handtasche unter dem Arm, »Spring doch!« gesagt. Und im nächsten Moment war sie verschwunden.
    Anne seufzte tief auf. Es hätte auch sie sein können, die zerschmettert auf dem Pflaster vor dem Reichstag lag. Und dann? Hätte Lilly zitternd dagestanden und »Sie wollte mich töten!« gesagt? Und hätte man ihr geglaubt? Wäre Anne Burau in der Erinnerung der Nachwelt als die Frau dagestanden, die für Macht und Geld nicht nur den Vorgänger aus dem Wege räumen ließ, sondern auch ihren Liebhaber und einen Unschuldigen, der ihr auf die Schliche gekommen war?
    Es hätte so ausgehen können – genau so hätte es ausgehen können. Vielleicht war sie deshalb weder empört noch verwundert gewesen, als sie den Verdacht in den Augen der anderen zu erkennen glaubte. In den Augen Karen Starks. Sie hatte sich resigniert darein ergeben. Sie hatte sich allen Ernstes schuldig gefühlt.
    Nur ein weiteres Verhör durch ein erregtes Journalistenrudel – das hätte sie nicht durchgestanden. Sie war

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