nichts als die wahrheit
wollte sie nie, nie wieder in ihrer Wohnung sehen. Aber leider war ausgerechnet das schlechterdings nicht zu vermeiden. Als sie eingezogen war in die wunderschöne helle Westendwohnung, sieben Jahre war das jetzt her, hatte sie nicht weiter ernst genommen, was ihre Vermieterin mit mildem Lächeln sagte: »Und uns allen liegt etwas an einem gepflegten einheitlichen Bild, gell?«
Frau Petzold aber hatte das ganz und gar wörtlich gemeint: Zur Straßenseite hin sollten alle Fenster weiße Gardinen aufweisen, Schmuck oder Blumen in den Fenstern waren verboten, und in die Balkonkästen gehörten, dem eindringlichen Wunsch der Vermieterin entsprechend, rote Geranien – ausschließlich rote Geranien. Dunkelrote Geranien.
Als Karen das erste Mal dagegen verstieß, indem sie eine lachsfarbene Rose auf ihren Balkon pflanzte, hatte sie es zuerst nicht weiter ernst genommen, daß die Petzold bei ihr Sturm klingelte und völlig außer Atem Mal um Mal »Aber Frau Stark!« rief. Heute fand sie das alles nicht mehr komisch. Denn Frau Petzold beharrte darauf, mitreden zu dürfen bei der Neugestaltung ihrer Wohnung. Karen Stark aber hatte die Nase voll von weißen Gardinen an ihren Fenstern. Sie hatte keine Lust mehr auf das »einheitliche Bild«, das das Haus nach außen abgeben sollte.
Sie hatte ein einziges Mal versucht, mit der Vermieterin die Situation unter rechtlichen Aspekten zu diskutieren. Frau Petzold hatte tödlich beleidigt reagiert. »Nur weil Sie Staatsanwältin sind!« hatte sie empört ausgerufen. Sie schien anzunehmen, daß es eine besondere Anmaßung sei, wenn sich auch eine Staatsanwältin auf das für alle geltende Recht bezog.
Karen seufzte und räumte den Stapel von Katalogen beiseite. Die Verkäuferin in dem Laden mit den wunderbaren französischen Stoffen hatte sich das Problem angehört, die Vorderzähne auf die Unterlippe gesetzt, das Kinn nachdenklich vorgeschoben und schließlich vorgeschlagen, die neuen Vorhänge so zu drapieren, daß von außen nur die weiße Gardine und von innen nur das opulente Rosenmuster der neuen Vorhänge zu sehen seien.
Karen Stark sah auf die Uhr, die über dem Kühlschrank hing. Dann seufzte sie wieder und griff nach der Handakte, die neben der Kaffeetasse lag. Sie hatte noch eine Stunde Zeit, bis sie im Büro sein mußte, Zeit genug, um das Versprechen einzulösen, das sie Wenzel gestern gegeben hatte. Wenigstens überfliegen wollte sie die Akte Bunge.
Lustlos überblätterte sie die ersten Seiten und den Autopsiebericht. Im Unterschied zu Wenzel war sie wenig interessiert an den medizinischen Details. Die Gefühle beschäftigten sie, mit denen man es bei gewaltsamen Todesfällen zu tun hatte. Die meisten Täter trieb Persönliches an. Sollte Bunge wider Erwarten nicht freiwillig gesprungen, sollte der Todesfall gar auf Mord oder Totschlag zurückzuführen sein, so würde sich das Motiv, davon war sie überzeugt, nur in seinen persönlichen Umständen finden lassen.
Als sie auf die Kopie der Todesanzeige für Alexander Bunge stieß, war sie überrascht – nicht nur, weil jemand die Anzeige für wichtig genug gehalten hatte, um sie der Akte beizuheften, sondern weil sie in jeder Hinsicht ungewöhnlich war:
A LEXANDER B UNGE , 19.4.1951 – 13.8.1999
»Du liebtest die Wahrheit
mehr als dich selbst
An ihr hing Dein Herz –
nicht am Leben.
Das Leben hatte ein Einsehen.«
In Liebe, Respekt und Trauer
im Namen der Freunde und Familie:
Edith Manning.
Edith Manning. Woher kannte sie bloß den Namen? Nicht aus Politiker- oder Parteikreisen, so viel war sicher. Schließlich fiel es ihr wieder ein: Edith Manning war der Name einer bekannten Frankfurter Strafverteidigerin. Sie vertrat den Beschuldigten im Kindergartenprozeß. Karen sah wieder auf die Küchenuhr. Sie konnte die Anwältin in etwa zweieinhalb Stunden bei der Verhandlung treffen.
Karen ließ ihren kalt gewordenen Milchkaffee in der Tasse kreisen und sah durchs Küchenfenster hinaus zum Himmel, auf dem ein Flugzeug eine Schleppe aus zwei weißen Kondensstreifen hinter sich herzog. Es schadete nichts, die Kollegin anzusprechen. Gehörte sie zum Freundeskreis oder zur Familie des Verstorbenen? Und was hatte es mit dem seltsamen Text der Anzeige auf sich?
Endlich gab sie sich einen Ruck und erhob sich vom Küchentisch. Dann ging sie ins Bad.
Bevor sie eine halbe Stunde später die Haustür hinter sich zuzog, war sie zweimal zurück in ihre Wohnung gelaufen, nur weil sie wieder irgend etwas vergessen
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