nichts als die wahrheit
hatte. Erst die Handakte Bunge. Dann ihren Autoschlüssel. Demnächst würde sie noch ihren Verstand zu Hause liegenlassen.
Karen drehte den Schlüssel in der Haustür zweimal um. Ihre Schusseligkeit in letzter Zeit machte sie nervös. War das vorzeitige Altersdemenz? »Streß«, hatte Marion kürzlich gesagt und ihr Urlaub empfohlen. Streß! Karen schnaubte. Das war ja das Allerneueste.
Wenigstens war sie noch nicht so gaga wie der alte Niemann, der jeden Tag wie ein Besessener die Straße fegte. »Bin gleich fertig!« rief er ihr zu, als er sie aus dem Gartentor heraustreten sah.
»Nur keine Hektik!« rief sie zurück. Sie und er waren ein eingespieltes Team.
»Gleich ist es soweit!« rief die brüchige Männerstimme, jede Silbe unterlegt von einem kräftigen Strich mit dem Besen. Der alte Mann würde wahrscheinlich verdorren und verdämmern, wenn er nicht jeden Tag die Straße kehren dürfte.
»Gleich – fertig!« sagte er, ohne aufzusehen.
Andere joggen, dachte Karen – manchmal jedenfalls. Der alte Niemann fegt mit Kraft und Ausdauer die Straße. Auch das beugt dem Herzinfarkt vor.
In ihrem Laden herrschte Hochbetrieb. Kaum saß Karen wieder im Büro, funktionierte ihr Gedächtnis makellos. »Streß!« murmelte sie verächtlich, als sie den zweiten Aktenstapel durchgearbeitet hatte.
Dann erst ging sie hinunter zum Verhandlungszimmer. Die ersten beiden Verhandlungen des Tages verliefen nach Plan: Im einen Fall wurde die Beweisaufnahme verschoben, im zweiten Fall folgte die Richterin dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Karen schaffte es gerade noch vor Beginn der Sitzung in den Raum, in dem der »Kindergartenfall« verhandelt wurde. Diese Verhandlung würde sich nicht so unspektakulär erledigen. Dafür würde die Person sorgen, die sich soeben mit der linken Hand durch die kurzen dunklen Haare fuhr und sich mit beiden Händen das Jackett geradezog, während sie aufstand. Mit vor Konzentration gerunzelten Augenbrauen begann Edith Manning die Klagebegründung der Staatsanwaltschaft auseinanderzunehmen.
Karen war damals froh gewesen, daß nicht sie den Fall hatte übernehmen müssen. Es ging um einen jungen Mann, einen gelernten Erzieher, der im katholischen Kindergarten von Bornheim jahrelang als liebevoller und verläßlicher Betreuer gegolten hatte – bis das Gerücht aufkam, er habe sich an seinen Schützlingen vergangen. Auf das Gerücht folgte die Hysterie, und noch bevor die Ermittlungen begonnen hatten, war der junge Mann bereits als mutmaßlicher Täter geoutet – von den Zeitungen, mit Foto.
Nach einem mißlungenen Selbstmordversuch lag der junge Mann auf der Intensivstation – und Edith Manning bezichtigte sie alle des Rufmordes. Die hysterischen Mütter und besorgten Väter, die Kolleginnen des Angeklagten, die Vertreter des Jugendamtes und vor allem die Medien. Und nicht zuletzt die Staatsanwaltschaft, die Klage erhoben hatte.
»Wir nennen das Rassismus. Wir nennen das Sexismus. Wir nennen das eine unerträgliche Diskriminierung, wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts an den Pranger gestellt wird. Der Angeklagte schwebt in dieser Minute zwischen Leben und Tod – nicht, weil er ein reuiger Verbrecher wäre, der sich der weltlichen Gerechtigkeit hätte entziehen wollen. Sondern weil er ein Verzweifelter ist, der dieser Gerechtigkeit nicht mehr traut. Die Anklage beruht allein und ausschließlich darauf, daß der Angeklagte ein Mann ist. Sie ist ein Dokument sexistischer Vorurteile. Sie hat einen Unschuldigen auf dem Gewissen.«
Fast bewunderte Karen die Verteidigerin für ihren Mut. Fast hatte sie Mitleid mit dem ermittelnden Kollegen. Sexueller Mißbrauch von Kindern im Kindergartenalter war schwer nachzuweisen – nur wenn die Kinder körperlich verletzt worden waren, gab es Eindeutigkeit. Ob sie Schaden an ihrer Seele genommen hatten, war eine Frage des Ermessens – und der Definition. Besonders Ängstlichen galt bereits das Abhalten der Kinder auf dem Klo als Mißbrauch, Hysteriker schlugen bei jeder Form körperlicher Berührung Alarm. Natürlich war das Unsinn. Andererseits erwischte auch sie sich beim Gedanken, daß sie in solchen Fällen auf der Seite des gesunden Volksempfindens und damit im Zweifel gegen den Angeklagten war.
Der Richter verkündete Vertagung und beendete die Sitzung. Edith Manning stand noch immer am Tisch, beide Hände auf die Platte gestützt, und schien ins Leere zu blicken. Karen räusperte sich, bevor sie sie ansprach. Sie glaubte zu sehen, wie die
Weitere Kostenlose Bücher