nichts als die wahrheit
»Achtnulldreieinsfünfsieben«, murmelte Jonathan Frei. Sie war ihm ins Gedächtnis gebrannt.
803157. Das Bild vor seinem inneren Auge verblaßte, verdunkelte sich, dann reihten sich andere Bilder aneinander, stolperten vorwärts. Er hatte sich das alles so oft schon vorgestellt, daß er sich manchmal einbildete, er sei dabeigewesen – damals. In solchen Momenten glaubte er Brandgeruch in der Nase zu haben, hörte das Rollen der Artillerie, dazwischen Maschinengewehrgetacker, sah den von Rauch verdüsterten Himmel. Und dann …
Drei Männer krochen aus der Erde, aus dem geborstenen Pflaster, wie Maulwürfe, und robbten sich im Schutz der wenigen noch stehenden Mauern vorwärts, an den Trümmern der Reichskanzlei vorbei. Es war der 2. Mai 1945. Berlin war gefallen, Rotarmisten waren überall. Die drei Gestalten wurden kleiner, überquerten den Wilhelmsplatz, auf dem die Ruinen rauchten, verschwanden im U-Bahnschacht. Schließlich tauchten sie wieder auf, liefen im Zickzack durch das, was einmal Straßen gewesen waren, Friedrichstraße, Schiffbauerdamm. Über die Brücke. Und dann über die Gleise zum Lehrter Bahnhof – dorthin, wo er jetzt stand.
Jonathan Frei öffnete die Augen wieder. Nach allem, was man wußte, war es HJ-Führer Artur Axmann gewesen, der die Waffe bei sich trug. Er hatte sie von seinem Adjutanten erhalten, von Leutnant Hamann – dem wiederum war sie von Sturmbannführer Otto Günsche gegeben worden. Und der hatte sie bei der Leiche gefunden.
Hinter Frei hupte ein Auto, andere schlossen sich an. Wie oft hatte Artur Axmann nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wohl hier gestanden und darüber nachgegrübelt, wo genau er sie vergraben hatte, damals am 2. Mai, als es keine Hoffnung mehr auf Flucht zu geben schien? Irgendwo unter den Schottersteinen eines Gleises des zertrümmerten Lehrter Bahnhof. Vielleicht nicht weit von der Stelle entfernt, an der man 1972 Martin Bormanns Leiche gefunden hatte – des zweitgrößten Verbrechers in Hitlers Reich.
Wie oft Axmann wohl versucht hatte, das gute Stück wiederzufinden, das in den dreißiger Jahren dreißig Reichsmark gekostet hatte und heute auf dem Markt der Sammler und Verrückten über drei Millionen Dollar wert war? Seriennummer 803157. Walther PPK, Kaliber 7,65 Millimeter. Die Waffe, mit der sich Adolf Hitler in den Kopf schoß – an einem Montag. Am 30. April 1945.
Frei atmete tief auf.
Ihm war kalt geworden in seinem Trenchcoat. Durch die Baustelleneinfahrt rollte ein gelbblauer Transportbetonlaster mit rotierendem Tank. Minuten später ergoß sich grauer Beton in die rechte Ecke der Grube. Zuschütten, dachte Frei. Alles zuschütten. Er zog die Schultern hoch, warf einen letzten Blick über den Bauzaun, drehte sich um und bahnte sich seinen Weg über die Straße, zwischen den Autos hindurch, deren Fahrer das Hupen aufgegeben hatten und nun hinter dem Steuer Zeitung lasen, eine Zigarette rauchten, Kaffee tranken oder den Kränen zusahen, die ihre Hälse über der Baustelle bewegten, als wiegten sie den Kopf.
Er begann sich zu ärgern, daß er sich von Vic dazu hatte verleiten lassen, einem weiteren der vielen angefaulten Gerüchte nachzugehen – diesmal war es Hitlers Walther PPK, das letzte Mal war es das Bernsteinzimmer gewesen. Alle Jahre wieder tauchte irgendein Spinner auf und behauptete, eines der letzten verbliebenen Geheimnisse des »Tausendjährigen Reichs« gelüftet zu haben. Was für eine unnütze Mission, dachte er. Der »Führer« war seit fünfzig Jahren tot und seine Selbstmordwaffe seither verschwunden. Es war undenkbar, es war unvorstellbar, daß sie irgendeiner gefunden hatte – vor oder während der Abrißarbeiten am Lehrter Bahnhof.
Er hatte nicht gemerkt, daß er noch mitten auf der Straße stand, während sich die Autokolonne, die auch auf dem Kronprinzenufer zum Stillstand gekommen war, wieder in Bewegung setzte. Diesmal galt das Hupkonzert ihm.
»He – träumste?« rief ihm ein junger Mann mit Pferdeschwanz aus dem geöffneten Fenster eines Kleintransporters zu.
Frei grinste und winkte zurück. Nein, er träumte nicht mehr. Er fühlte sich wie befreit. Es gab hier nichts zu finden – und deshalb auch keine Aufgabe mehr für ihn. Vergiß die Vergangenheit, dachte er und sprintete auf die andere Seite. Die Gegenwart ist spannender.
»Was willst du in Berlin?« hatte Todd Roth ihn vor seiner Abreise anklagend gefragt.
Zusehen, wie es wächst, dachte Frei.
Er hatte Todd Roth auf dem Abschiedsfest, das
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