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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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mit den Maschinenpistolen, die jahrzehntelang mit ihren Hunden die Mauer bewacht hatten, verschwunden, lag der Potsdamer Platz weit und öd vor ihm, und er war fast ängstlich über die plötzlich offen gelegte Wunde der Stadt hinweggeschritten.
    Er erinnerte sich noch heute an das Gefühl dabei, an die Einbildung, sich auf schwankendem Terrain zu bewegen, an die Vorstellung, jederzeit könne sich der Boden öffnen, um ihn zu verschlingen. Jederzeit könne explodieren, was diese Stadt seit Jahrzehnten barg, könne sich der Sprengstoff aus heißem und kaltem Krieg unter seinen Füßen sammeln zu einer letzten, zur endgültigen Explosion. Damals war er immer schneller gegangen, schließlich war er fast gerannt, hinüber zur nächsten belebten Straße, die ihm wie das rettende Ufer vorgekommen war.
    Heute war nichts mehr von alledem zu sehen. Für einen Moment hielt Jonathan Frei die Luft an, als er, von der Ebertstraße her, den neuen Potsdamer Platz erblickte. Das war Chicago – oder Cincinnati. Aber nicht Berlin.
    Leicht benommen betrat er die bizarre Insel der Moderne, die sich auf der ehemaligen Brache erhob und tastete sich durch die neuen Shopping Mails. Kein Zeichen der Vergangenheit, keine Schwingungen unter den Sohlen, nichts, was Signale aussandte an ihn.
    Erst als er direkt davorstand, erkannte er das Weinhaus Huth wieder, frisch restauriert, das nun wie ein Sahnetörtchen inmitten von Glas, Stahl und Beton thronte.
    Nach dem ersten Glas Wein ließ seine Spannung nach. Nein, Berlin leckte sich nicht mehr die Wunden, sondern ließ mit fast brutaler Entschiedenheit Gras drüber wachsen. Oder Beton reinschütten. Er prostete in Gedanken seiner Großmutter zu. Laß gut sein, Hilde. Laß die Vergangenheit ruhen.
    Er nahm ein Taxi zurück zum Kolleg, öffnete, als sie im Grunewald angelangt waren, das Fenster im Fond und atmete tief die Luft ein, die voller spätsommerlicher Gerüche war: nach trockenem Laub und frisch geschlagenem Holz. Es war gut, hier zu sein – für ein ganzes Forschungssemester im Berliner Kolleg. Und eine Ehre war es auch. Obwohl …
    Frei grinste in sich hinein. Ihm hatte die Vorstellung erst gar nicht behagt, hier eingesperrt zu sein in einen Käfig voller Narren, altkluger Genies, halberwachsener Besserwisser, Männer, die sich abends vor dem Kaminfeuer nach dem dritten Whisky ihre Heldentaten erzählten und dann einschliefen.
    Erfreulicherweise war alles nicht ganz so schlimm. Das lag nicht zuletzt an dem riesigen alten Haus, das sich trotz seiner Größe zwischen See und Park zu ducken schien. Er bezahlte den Taxifahrer und stieg aus. Das Haus empfing ihn wie einen guten Bekannten. Es roch nach Bohnerwachs und Fresien, die Treppe knarrte vertraut, und im Clubzimmer knisterte das Kaminfeuer.
    »Herr Frei?« Frau Schmittke steckte den Kopf zur Tür ihres Empfangsbüros heraus. Sie war das, was man früher »Hausdame« genannt hätte, eine Spezies, die er nur aus Büchern kannte.
    »Da ist ein Brief für Sie!«
    Er nahm den Briefumschlag dankend entgegen. Frau Schmittke trug ihr glänzendes kastanienbraunes Haare zu einem Chignon geschürzt, ihr Lippenstift war dezent und ihre Lesebrille diskret, sie war alterslos, wie es sich für eine Dame gehörte. Sie fühlte sich offenbar mit Leib und Seele als der gute Hausgeist des Kollegs, dessen Gründung erheblich jüngeren Datums war als das Gebäude und die Parkanlagen, durch die sie die Neuankömmlinge dieses Semesters vorgestern nachmittag mit kaum getarntem Besitzerstolz geführt hatte.
    Frei bedankte sich für den Brief und steckte ihn in die Manteltasche. Auf dem Weg in den ersten Stock grüßte er Agneta Kristeva, eine polnische Mathematikerin, die vergebens versuchte, ihr schönes Gesicht hinter einer unförmigen Brille zu verstecken. John Simmings, der Physiker aus Schottland, lief ihr mit verwehtem Schlips und in verknitterten Hosen hinterher. Unter den sechsundvierzig Kollegiaten aus allen Bereichen von Kunst und Wissenschaft und aus allen Ecken und Winkeln der Welt waren mehr Frauen, als man sie in den männlich dominierten wissenschaftlichen Zirkeln der Welt normalerweise antraf. Und dazu auch noch solche wie die Kristeva …
    Fast hätte er, in seinem Zimmer angekommen, den Brief vergessen, der in der Manteltasche steckte. Summend nahm er ihn heraus und riß ihn auf. »Wissenschaft meets Politik« nannte sich die Veranstaltung, zu der man in einem Kauderwelsch einlud, das man in diesem Land offenbar für weltläufig hielt. Das

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