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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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man in Chicago für ihn gab, in den Arm genommen und auf den Rücken geklopft. Der alte Mann hatte ein bißchen geweint und dann irgend etwas von der »Hauptstadt des Führers« gemurmelt und von »Groß-Germania«. Zuviel Erinnerung – und zu viele Martinis, hatte Frei gedacht. Die jüngeren Kollegen hatten völlig anders reagiert, sie waren begeistert oder neidisch gewesen, als bekannt wurde, daß er für ein Forschungssemester ans Kolleg in Berlin eingeladen war.
    Sicher, man kannte die Vergangenheit – wer kannte sie nicht? Berlin war die Stadt des Größenwahns und des schrecklichen Niedergangs, eine Stadt, die vierundvierzig Jahre lang die Trennung zwischen Ost und West verkörpert hatte wie kein anderer Ort, durch deren Herz ein Riß gegangen war, genannt die Mauer. Aber heute war nichts faszinierender, als dem Heilungsprozeß zuzusehen – zu beobachten, wie die Wunden sich schlossen.
    Als er angekommen war, Mittwoch mittag, auf dem übersichtlichen Flugplatz, der noch immer nicht nach einem toten Staatsmann hieß, sondern nach einem harmlosen Berliner Vorort, hatte sich in ihm tiefe Befriedigung ausgebreitet. Die Stadt, die er als düstere, melancholisch stimmende Geröllhalde erinnerte, brummte vor Geschäftigkeit. Sogar der Taxifahrer war freundlich.
    Jonathan Frei überquerte den Platz vor dem Reichstag und verrenkte den Hals nach der großen Kuppel, die das wiedererstandene alte Gebäude krönte. Er war lange nicht mehr hier gewesen. 1983 hatte er die Stadt zum ersten und 1991 zum letzten Mal besucht. Die Veränderungen waren mit Händen zu greifen.
    Beim ersten Besuch war er gerade 23 Jahre alt gewesen. Es war ein rauher Frühling nach einem schrecklichen Winter gewesen, er hatte sich endlich an die Krücken gewöhnt und fühlte sich noch immer gezeichnet und erschöpft von dem, was noch nicht lange hinter ihm lag. Warum man einen frisch ausgemusterten amerikanischen Elitesoldaten zur Genesung ausgerechnet ins alte Europa und dann auch noch ins geteilte Berlin schickte, verstand er bis heute nicht. Wahrscheinlich hatte man ihm zeigen wollen, daß kein Opfer zu groß war für die Freiheit des Westens. Fast hätte er aufgelacht. Wie zartfühlend.
    Der Anblick des Brandenburger Tors rührte ihn. Der Taxifahrer hatte ihn vorgestern triumphierend hindurchgefahren und »Macht das Tor auf!« gerufen. Wie klein dieses Symbol der deutschen Teilung heute aussah, das, als es noch zugemauert war, unüberwindlich gewirkt hatte. Frei bog in die Straße ein, die am Brandenburger Tor vorbei zum Potsdamer Platz führte. Er war bei jedem seiner Besuche am Potsdamer Platz gewesen. 1983 hatten ihn seine Gastgeber mit ernsten Gesichtern auf eine hölzerne Aussichtsplattform geführt und ihm das Panorama aus Wüstenei, nacktem Beton, Stacheldraht und hoppelnden Kaninchen zu erklären versucht – die Mauer, den Todesstreifen, diese völkerrechtliche Anomalie, die sich Staatsgrenze nannte.
    In irgendeiner Ecke seines Kopfes hatte er den »antifaschistischen Schutzwall« bis zu diesem Moment für Fiktion gehalten, für eine schwarze Fabel, mit der man zu Hause den Verteidigungsetat begründete – denn was wäre die Welt ohne den unbedingten amerikanischen Freiheitswillen, ohne den Weltgendarmen USA? Aber die Mauer war nicht Disneyland. Sie war, Betonwand für Betonwand, stacheldrahtbewehrte Wirklichkeit.
    Vom Potsdamer Platz, von dem seine Großmutter immer erzählte, sah man keine Spur. Hier, an einem Ort, wo Kaninchen zwischen Panzersperren spielten, sollte in den zwanziger Jahren einer der belebtesten Plätze Europas gewesen sein? Hilde hatte mit leuchtenden Augen vom ersten Mercedes geschwärmt, den sie hier majestätisch hatte vorbeigleiten sehen – »ganz in Weiß, mit dunkelgrünen Lederpolstern«. Und vom Weinhaus Huth. Das allerdings gab es noch immer, es war das einzige Gebäude, das erhalten geblieben war – und das nun wie eine bizarre Kulisse inmitten der Ödnis stand.
    Sie hatte geweint, seine Großmutter Hilde, als 1989 die Mauer fiel und man im Fernsehen jubelnde Menschen sah, die auf der Mauerkrone saßen, Sekt tranken, sich umarmten und die Vopos grüßten, denen man ansah, daß sie nicht wußten, ob sie zurücklächeln durften. Und auch er hatte einen Kloß im Hals gehabt, als die schmutzigweißen Mauersegmente beiseite gehoben wurden und sich die ersten Mutigen durch die Lücke quetschten.
    1991, bei seinem zweiten Besuch, waren Mauer und Todesstreifen und Selbstschußanlagen, waren die Uniformierten

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