nichts als die wahrheit
Datum auf dem Briefbogen lag zwei Wochen zurück. Aber eingeladen war er für heute abend, genauer gesagt: in einer Stunde.
Frei schüttelte den Kopf, warf Mantel, Jeans, Hemd und Unterwäsche auf einen Stuhl, schlüpfte aus den staubigen Schuhen und stellte sich unter die Dusche.
Als er sich abgetrocknet hatte und sich die Haare frottierte, inspizierte er sein Spiegelbild. Der Anblick beruhigte ihn. Die Haare auf der Brust waren noch immer dunkel, die auf dem Kopf schienen vollzählig, das Kreuz war gerade, die Schultern breit und der Bauch fast noch so flach wie vor zwanzig Jahren.
Damals lebte Charlie noch. Und Lucas. Und es war heiß, unendlich heiß gewesen in diesem Sommer 1980 in Missouri. Frei preßte das Handtuch gegen sein Gesicht. Trotzdem hatte er wieder den Geruch von Staub und Schweiß in der Nase, spürte, wie die Muskeln nach vierzig, fünfzig Liegestützen zu zittern begannen, hörte Long John, den hageren Drillsergeant, »Auf! Ab! Auf! Ab!« brüllen. Es war ein knochenhartes Jahr gewesen – und dennoch, im Rückblick, ein Jahr der Unschuld. Zwei Jahre später war er der einzige Überlebende einer Katastrophe.
Er ließ das warme weiche Handtuch fallen und sah an sich herab. Unterhalb des rechten Knies begann die Landkarte aus dünnen weißen Linien, unterbrochen von zwei tiefen, schrundigen Tälern direkt über der Wade. Das war einmal ein Bein gewesen, ein gesundes, muskulöses Bein. Dann hatte es sich in einem kurzen, unvergeßlichen Augenblick in ein blutiges Chaos aus Knochen und Sehnen, Knorpeln und Muskeln verwandelt. Er bewegte die Zehen und zog den Wadenmuskel an. Heute war es ein Triumph moderner Chirurgie.
Er zwang sich, wieder nach oben und sich im Spiegel in die Augen zu schauen. Nein, es fiel niemandem auf. Es fiel auch ihm fast gar nicht mehr auf, daß er ein Krüppel war.
2
»Die Damen und Herren von der Opposition machen es sich entschieden zu leicht, wenn sie, wider besseres Wissen …«
Anne unterdrückte ein Gähnen, das zigste, das sie in der letzten halben Stunde angefallen hatte. Es war eine kurze Nacht gewesen – nicht zuletzt, weil sie gestern bis Mitternacht im Reichstag geblieben war, als eine der wenigen pflichtbewußten Abgeordneten ihrer Fraktion. Bei der Diskussion der »Aufhebbaren 25. Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste (Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung) 14/188,14/579« gegen kurz vor zwölf war sie eingenickt. Zehn Minuten später hatte das Präsidium endlich ein Einsehen und beendete die Sitzung.
Heute, am Freitag mittag, am letzten Tag der Sitzungswoche, wirkten die Abgeordneten fröhlich und aufgeräumt. Die meisten hatten Koffer und Reisetaschen mitgebracht und sahen aus, als könnten sie kaum erwarten, das Hohe Haus zu verlassen. Nur Anne hatte beschlossen, sich dem Zug der Lemminge nach Hause nicht anzuschließen. Sie wollte nicht zum Weiherhof flüchten, sondern das Stadtleben genießen – und, wenn dafür Platz blieb, einen klaren Kopf gewinnen, was ihre Zukunft anging. Im Parlament. In der Partei. In Berlin.
Kaum war die Sitzung geschlossen, stürmten Hunderte von wohlerzogenen und wohlgekleideten Menschen wie die Schulkinder hinaus.
»Die meisten bestellen die Fahrbereitschaft schon Wochen vorher.« Emre Özbay guckte den Kollegen hinterher. Dann sah er sie prüfend an, umarmte sie und sagte: »Laß dich nicht abschrecken. Es ist alles nur Theaterdonner.« Sie nickte zurück, nicht ganz überzeugt, und ging neben ihm her zum Ausgang.
Ein Windstoß empfing sie. Sie atmete die frische kühle Luft tief ein. Der Himmel sah aus wie Spülwasser und hing über den Platanen, die auf dem Platz vor dem Reichstag Spalier standen und ihre Blätter schon abgelegt hatten. Es waren nur ein paar Schritte durch die Dorotheenstraße bis zum Büro.
Die schmiedeeiserne Tür am Portal des von Einschüssen pockennarbigen Barockgebäudes stand weit offen, in der Pförtnerloge war niemand zu sehen. Die Stille in dem wuchtigen Haus überfiel sie wie ein Schwall Polarluft. Ihre Schritte hallten durch den langen Flur, durch dessen Fenster ein kraftloses Nachmittagslicht fiel. Mit einem trockenen »Tock« sprang der große Zeiger der runden Uhr, die in der Mitte des Gangs hing, eine Stelle weiter.
Das Echo ihrer Schritte brach sich an der Decke und an den Wänden, zum ersten Mal fiel ihr auf, daß Säulen und Gewölbe einen langen Kreuzgang bildeten. Auf dem Brett vor einem hohen Fenster zum Innenhof hin stand ein Blechdeckel mit Zigarettenkippen. Als
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