nichts als die wahrheit
sie hinausblickte, stieg ein Vogelschwarm auf aus dem Wipfel der hochgewachsenen Fichte, die im Hof stand. Die Sehnsucht, mit der sie plötzlich an die Wiesen und Wälder des Weiherhofs dachte, überraschte sie. Sie beschleunigte ihre Schritte und straffte resolut die Schultern, bevor sie die Tür zu ihrem Büro öffnete.
Sie hätte sich fast die Nase zugehalten. Die Zang hatte wieder Räucherstäbchen angezündet, die von der penetranten Sorte, deren Geruch sich in sämtlichen Akten und Unterlagen festsetzte. Sogar in der Unterschriftenmappe hatte sie gestern nach Patchouli riechende Asche gefunden.
Außerdem telefonierte die Zang schon wieder. Erst als sie in ihrem eigenen Büro angekommen war, wunderte Anne sich über das erschrockene Gesicht der Sekretärin, das in Sekundenschnelle ganz rot geworden war. Und warum war die Frau überhaupt noch da, wo doch alle anderen Abgeordneten, Mitarbeiter oder Sekretärinnen das Gebäude schlagartig geräumt zu haben schienen?
Anne ließ sich in den Schreibtischsessel fallen. Auch in ihrem Büro bestand die Decke aus einem Kreuzgewölbe – und wie schön hätte dieser Anblick sein können, wenn man nicht zwei Schienen mit grellen Leuchtstofflampen darunter gehängt hätte. Abrupt stand sie wieder auf und löschte das Licht.
Aus ihrem Fenster sah sie keine Bäume oder Vögel, sondern in den Hof zum Nachbarhaus. Der Blick glitt von der Wand aus roten Klinkern hinunter auf die geborstenen Betonplatten, die den Hof bedeckten, auf den Glascontainer, zwei riesige Behältnisse für Altpapier, das verwitterte Plastikvordach über einer Art Werkstattgebäude und zwei senfbraune Stühle, die einander gegenüber standen.
Durch die angelehnte Tür hörte sie die Zang sprechen, erst leise, dann lauter, dann wieder leise. Anne wollte nicht hinhören. Sie wünschte, die Frau würde endlich nach Hause gehen und ihre Privatgespräche da führen, wo sie hingehörten. Das laute, fast geschriene »Ich weiß es doch auch nicht!« von nebenan ließ sie aufhorchen. Bevor sie aufstehen und nach der Zang gucken konnte, hörte sie, wie die Tür zum Flur aufgerissen wurde und dann zufiel. Als sie ins Büro der Sekretärin kam, war Mechthild Zang gegangen.
»Auch recht«, murmelte Anne, blieb am Schreibtisch der Sekretärin stehen, schob einen Stapel Papier von rechts nach links und blätterte im Tischkalender, ohne recht zu wissen, was sie darin eigentlich suchte. Beim Eintrag »Peter Zettel 16 Uhr« war ihre Wut wieder da. Der Schuft, dachte sie. Der Termin war unter dem 10. August notiert. Die Verabredung mußte wenige Tage vor Bunges Tod stattgefunden haben.
Als das Telefon zu dudeln begann, zuckte sie zusammen. Dennoch nahm sie den Hörer auf. Fast erwartete sie, wieder dieses heisere Flüstern zu hören, diese geschlechtslose Stimme, mit der irgendwer versucht hatte, sie einzuschüchtern.
»Du bist noch im Büro, Anne?« Emre klang erstaunt. Das wunderte wiederum sie. Denn warum rief er sonst hier an?
»Hast du heute abend schon was vor?« Anne hätte fast gelacht. Nein, sie hatte nichts vor. Gar nichts hatte sie vor.
»Dann hol ich dich in einer halben Stunde ab!«
»Und wohin?« Sie ließ sich in den Stuhl der Sekretärin sinken. Richtig Lust hatte sie nicht. Aber irgendwie rührte sie seine Fürsorge.
»Wird nicht verraten.«
Anne lächelte in sich hinein. Sie war offenbar mitnichten so einsam, wie sie sich manchmal fühlte. Dann fiel ihr Blick auf den Brieföffner, der auf dem Schreibtisch lag und den sie während des Gesprächs geistesabwesend zwischen den Fingern gedreht hatte.
Es war eine Art Dolch, kein Kunstwerk, eher klobig und schwer. Sie hielt ihn unter die Schreibtischlampe. Auf dem schwarzen Griff konnte man Buchstaben erkennen, nach altdeutscher Schrift sah das aus, aber ihr sagten die Zeichen nichts. Einen seltsamen Geschmack hatte die Zang. Sie drehte den Öffner herum. Auf der anderen Seite des Griffs war etwas eingeritzt, das wie ein militärisches Emblem aussah, ein Hakenkreuz war es nicht, es kam ihr dennoch vertraut vor.
Anne schüttelte den Kopf und ließ den Brieföffner wieder auf die Schreibtischplatte fallen. Ein eigenartiges Souvenir für die Sekretärin eines Bundestagsabgeordneten. Aber was ging sie das an?
Resolut schob sie den Schreibtischstuhl nach hinten, stand auf und ging hinüber in ihr eigenes Zimmer. Dort stellte sie sich vor den Spiegel über dem Waschbecken im Wandschrank, kämmte sich die Haare, zog sich die Lippen nach und merkte
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