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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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hippokratischen Eid seiner Branche hielt – gegen die Selbstverpflichtung auf die Wahrheit.
    »Aber …«
    »Ich weiß ja, was du denkst.« Die Tat ist dem Verdächtigen zuzutrauen – das dachte sie. »Aber in diesem Beruf hier kommt es nicht darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu beschreiben.«
    Sie schmollte.
    »Paula …« Becker suchte nach dem Wort, das sie überzeugen könnte. »Es gibt so etwas wie die Wahrheit. «
    Paula verzog das Gesicht, sagte »Wie langweilig«, rutschte von seinem Schreibtisch, griff sich das Blatt Papier und stürmte aus dem Büro. Becker sah ihr hinterher, mit einem Anflug von Bedauern. Unwillkürlich berührte sein Finger die weiße Narbe an der Stirn. Und, Paula, hatte er ihr noch sagen wollen – selbst die Rechtschreibreform sieht kein Apostroph vor dem Genitiv-S vor! »Walde’s Behauptung …« Um Himmels willen.
    Becker seufzte. Er würde sie vermissen. Ihre Fesseln, ihre Knie, ihr freches Grinsen – aber nicht das Geschwätz vom »innovativen Schreiben«. Hatte er diesen Unsinn wirklich auch erzählt, vor fünfzehn Jahren, als er dachte, mit einem Volontariat beim »Journal« das große Los gezogen zu haben?
    Wahrscheinlich. Wer als Anfänger nicht glaubt, fast alles verbessern zu können, der bringt wahrscheinlich noch nicht einmal gesundes Mittelmaß zustande. Aber irgendwann macht der ganz große Innovationsgestus aus jungen Talenten Nörgler und Besserwisser. Er jedenfalls konnte das mit jedem pickeligen Hospitanten und jeder bildschönen Praktikantin wiederkehrende Neue nicht mehr ertragen.
    »Hansi?« Becker blickte auf. Paula steckte den Kopf zur Tür herein. »Du bist süß. Trotz alledem.« Gott sei Dank machte sie die Tür gleich wieder zu, sonst hätte sie Hans Becker erröten sehen.
    Er schaltete zu den Sechzehn-Uhr-Nachrichten das Radio ein. Halblaut korrigierte er falsche Präpositionen, verbesserte falsche Konjunktive, den notorisch falschen Gebrauch der indirekten Rede und die sich immer weiter verbreitende falsche Aussprache. »Es heißt Konsens , ihr Deppen!«
    Flüchtig zog in seinem Hirn der Gedanke auf, daß er langsam aber sicher seltsam wurde. Oder war das etwa nicht skurril, daß er noch immer die Rechtschreibreform boykottierte, »Quentchen« und »überschwenglich« und »Greuel« in die Manuskripte der Kollegen redigierte und bis zum Andruck um sein »daß« mit sz kämpfte?
    Becker klopfte mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte. Er konnte sich nicht helfen. Er haßte Operationen am lebenden Sprachkörper. Und er haßte innovative Wortschöpfungen wie »beinhart« oder »schwächelnd« oder gar »säftelnd«.
    Fast sehnsüchtig dachte er plötzlich an Walter Loewe, damals Leiter des Berliner Büros, der regelmäßig und mit empfindungsloser Brutalität alles aus Beckers Manuskripten getilgt hatte, was der selbst als mutig und experimentell empfunden hatte. Der alte autoritäre Sack hatte recht gehabt.
    Becker suchte nach der Fernbedienung, um das Radio wieder auszumachen. Der für diese Stunde angekündigte Bericht über den Berliner Untergrund interessierte ihn nicht. Er hatte die Hand schon ausgestreckt, als er erstarrte.
    »Trauriger Sonntag, dein Abend ist nicht mehr weit«, sang eine Frauenstimme. Eine schmerzhaft schöne Stimme.
    »Mit schwarzen Schatten teil ich meine Einsamkeit«, lispelte sie.
    Mona, dachte er, und allein der Name tat weh.
    »Schließ ich die Augen, dann seh ich sie hundertfach …«
    Es war ihr Lied, das man soeben im Radio spielte.
    »Ich kann nicht schlafen, und sie werden nie mehr wach.«
    Monas Lied, diese ungeheuer traurige ungarische Weise, Szomoru Vasarnap, »Trauriger Sonntag« genannt.
    »Ich seh Gestalten ziehn im Zigarettenrauch.«
    Die Sängerin intonierte genauso, genau wie Mona, in vorsichtigem, hingetupftem, zerbrechlichem Deutsch. Monas Lied – und sein Lied.
    »Laß mich nicht hier, sagt den Engeln: Ich komme auch …«, flüsterte er mit.
    »Trauriger Sonntag.«
    Bevor er sich auflösen konnte vor Trauer und Schmerz, hatte sein Zeigefinger den Ausknopf auf der Fernbedienung gefunden. Tief atmend ließ er sich wieder zurücksinken in seinen Schreibtischsessel. Laß den Deckel drauf, dachte er. Es tut nicht gut, Vergangenes zu weit an die Oberfläche kommen zu lassen.
    Er gab sich einen Ruck und ließ mit einer Mausbewegung den Computer wieder hochfahren. Mit brüchiger Aufmerksamkeit blätterte er durch die Meldungen der Nachrichtenagenturen – keine hatte etwas richtig

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