nichts als die wahrheit
den Verrat der Moral an der Wahrheit anzuprangern – dazu war er viel zu sehr Zyniker. Was würde geschehen, wenn er Lillys Betrug aufdeckte?
»Ich werde diese Wahrheit immer verteidigen«, hatte sie gesagt – ihre Wahrheit. »Gegen jeden Widerstand. Und wenn ich daran sterbe.« In diesem Moment hatte er ihn gespürt, den Größenwahn, den Fanatismus …
Neben ihm räusperte sich jemand. Verwirrt blickte Becker auf. Emilio stand lächelnd da, die Augenbraue fragend hochgezogen, einen Teller mit Tiramisú in der Hand. Er lächelte dankbar zurück und stürzte sich wie ein Süchtiger auf den Nachtisch. Das riß ihn heraus aus seinen Gedanken, ja, kurzfristig gelang es ihm sogar, sich mit schöneren Vorstellungen abzulenken. Von Paula, zum Beispiel. Aber der lichte Moment dauerte nicht lange.
Solche Gedanken hatten keine Zukunft. Sein Herz – und sein Portemonnaie – gehörten bis ans Ende aller Zeiten Mona (und Wolle Majerski … ).
Wie zum Hohn durchfluteten Klänge das Restaurant, die ihm unendlich nah und schrecklich vertraut waren. Es schien ihn neuerdings zu verfolgen, das Lied vom »Traurigen Sonntag« – Monas Lied. Selbstvergessen summte er mit, und bei der Zeile »Sagt den Engeln, ich komme auch« überfiel ihn eine süße Ahnung vom Tod – bis er sich klarmachte, daß Mona nicht im Himmel, sondern im Zweifelsfall bei ihrem Rockmusiker war und selbst seine Mutter noch lebte, wenn auch in einer anderen Welt.
Er setzte sich auf, schob den Teller von sich, berührte wie zum Abschied mit dem Finger die Narbe an seiner Schläfe und verbot sich jede Sentimentalität. Und deshalb erhielt ein anderer Gedanke endlich seine Chance, ein Gedanke, der schon lange im Hintergrund auf seinen Moment gewartet hatte, ein Gedanke, der mit Zettels Computer zu tun hatte, mit dem, was er dort gesehen oder auch nicht gesehen hatte.
Abrupt forderte Becker von Emilio die Rechnung. Er zwang sich zu einem Trinkgeld von drei Mark – das waren fast fünf Prozent der für seine Verhältnisse abenteuerlich hohen Summe – und drängte sich aus dem Restaurant, in das gerade eine Gruppe von älteren Herren einbrach, die sich mit unverkennbar rheinischem Singsang begrüßten.
»Wie isset?«
»Wie sollet sein?«
Becker machte sich auf den Weg in die Redaktion, wo um diese Zeit keine Menschenseele sein dürfte. Um so besser für das, was er vorhatte. Schon in der Charlottenstraße hörte er Musik und Stimmen. Als er auf den Gendarmenmarkt einbog, kamen ihm die Menschen in Trupps entgegen.
Vor dem Französischen Dom war ein großes weißes Zelt aufgebaut, ein Zelt wie aus Tausendundeiner Nacht, von dessen Spitze bunte Banner flatterten. Der Platz war hell erleuchtet, Menschen mit Gläsern in der Hand standen herum, aus dem Zelt klang der Schlußchor aus »Aida«. Er hatte vergessen, daß es schon wieder ein Fest gab auf dem, was allgemein als schönster Platz Berlins galt. Der Anlaß war ihm entfallen, aber es würde zum krönenden Abschluß bestimmt wieder ein Feuerwerk gegeben, es gab neuerdings immer ein Feuerwerk zum Ende eines Festes. Um so besser, dachte er.
Um so weniger fiel auf, wenn er um diese Zeit noch im Büro war.
Als er an der Tür zu Zettels Büro stand, glaubte er einen schwachen Geruch wahrzunehmen, einen vertrauten Geruch – aber wonach? Er blähte die Nasenflügel. Er hatte das Gefühl, als ob das Zimmer gerade erst verlassen worden war. Die Putzfrauen? Unwahrscheinlich. Die kamen erst in ein paar Stunden, kurz bevor am Montag der Betrieb wieder losging.
Er blickte den Flur herauf und hinunter. Nichts zu hören, nichts zu sehen – und etwas anderes hätte ihn auch gewundert. Sonntagabends kamen nur Verrückte ins Büro. Spinner wie er. Vielleicht war es sein schlechtes Gewissen, das ihm das Gefühl bescherte, er sei nicht der einzige heute.
Geschieht dir recht, wenn du erwischt wirst, dachte er. Dann ging er ins Büro und ließ die Tür einen Spalt weit offen, damit er rechtzeitig hörte, wenn jemand kam.
Er fuhr Zettels Computer hoch. Während er wartete, bis sich das Bild auf dem Monitor aufbaute, wanderten seine Blicke zum Fenster das sich in eine Panoramapostkarte verwandelt hatte. Draußen badete die schönste Kulisse Berlins im warmen Licht der Scheinwerfer. Der Goldengel auf der Kuppel des Französischen Doms schien ihn heute persönlich zu grüßen. Es war so bilderbuchmäßig hier, daß es fast weh tat.
Prompt sehnte er sich wieder zurück in die Zeit, als ein Korrespondentenjob in Berlin nicht
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