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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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viel besseres als Abschiebehaft war. Damals hatte er es sich noch leisten können, mit den Kollegen abends in die Kneipe zu gehen. Zum Beispiel ins Dietzl, eine schummrige Eckkneipe, in der die Tische klebten und die kackbraunen Vorhänge nach altem Fett rochen. Oder zum Peter, wo man vom kleinen dicken hüftschwenkenden Wirt mit »Herzchen« und »Liebling« begrüßt wurde.
    Walter Loewe hatte sich einen Sport daraus gemacht, die häßlichsten und verkommensten Kneipen des Viertels auszusuchen und sie alle auf Abenteuertour einzuladen. Die ganze Journalistenbagage war abends in eine dieser Kneipen eingelaufen, meistens sehr zum Entsetzen der Eingeborenen, und hatte lauthals Bier bestellt. »Komm, Hansi, auf einem Bein kann man nicht stehen!« Die Kampftrinker der Redaktion hatten sich die größte Mühe gegeben, die jungen Kollegen auf ihren Pegel zu bringen. »Komm, Hansi, noch ’n Absacker!« Er hatte Loewes verrauchte und verrußte Stimme im Ohr.
    Es war eine gnadenlose, finstere, urkomische, hinreißende Zeit gewesen in einem gottverlassenen, sterbenden Berlin, bevölkert von Studenten, Rentnern und verseuchten Tauben. Aber die welthistorische Nische hatte Platz gehabt für Kreuzberger Nächte, alternatives Chaos und eine skurrile Bohème, die dem neuen Berlin abhanden gekommen war. Das alte Berlin hatte Charme gehabt – das neue hatte Zukunft.
    Entschlossen wandte Hans Becker sich wieder dem Bildschirm zu. Heute hatten die aufgeräumten Neuberliner das Sagen – Leute wie Peter Zettel, smart, ehrgeizig, umtriebig. Er mußte wissen, was Zettel wußte. Bevor Lilly ihn unterbrochen hatte, war ihm etwas aufgefallen. Eine Kleinigkeit nur, aber …
    »Falsches Paßwort. Sie haben keinen Zugang« flimmerte es ihm vom Bildschirm entgegen. Hans erstarrte. Er ging die möglichen Erklärungen durch und kam auf zwei, die am wahrscheinlichsten waren. Entweder war Zettel zurückgekehrt, hatte gemerkt, daß sich ein Fremder in seinen Computer eingeloggt hatte, und hatte den Zugang versperrt. Unlogisch, wandte sein Verstand ein. Zettel hätte beim geringsten Verdacht einfach das Paßwort geändert, wie es jeder tun würde.
    Die zweite Erklärung: Es hatte sich eine andere Person an den Computer herangemacht, hatte nicht, wie er, das Glück gehabt, das richtige Paßwort zu finden, und hatte damit den Computer blockiert. Auch für ihn. In wachsender Frustration starrte Becker auf den Bildschirm.
    Wieso auch für ihn? dachte er plötzlich. Zwei Dinge halfen seiner Erfahrung nach immer: die alte Zauberformel »Ctrl-Alt-Del« oder Ausschalten und Neustarten. Wenn er den Computer neu startete, wurde – möglicherweise – die Blockade aufgehoben und die Paßwortabfrage erneut initiiert.
    Becker beugte sich hinunter zur Zentraleinheit, die unter Zettels Schreibtisch summte, und drückte auf den Knopf für »Restart«. Instinktiv reagierte er auf das leise Geräusch und auf den Lufthauch, der von der Tür her kam.
    »Zettel!« dachte er und wollte sich aufrichten.
    Der Schlag am Hinterkopf traf ihn mitten in der Bewegung und fegte seinen Kopf zur Seite.
    Aber das spürte Hans Becker schon nicht mehr. Sein Körper glitt kopfüber vom Stuhl. Seine rechte Hand krampfte sich im Fallen um das Verlängerungskabel der Tastatur und riß sie mit nach unten. Sein Fuß schlug einmal aus, dann blieb er regungslos liegen.
    Auf dem Schreibtisch über ihm leuchtete der Monitor magentarot, blinkte das Promptzeichen hinter der Frage: »Paßwort???« Das Foto mit dem schwarzen Labrador namens Amber flatterte zu Boden. Dann schloß sich die Tür zu Zettels Büro von außen. Sanft, nachdrücklich und fast geräuschlos.

3
    Der Saal der Bundespressekonferenz kam ihr vor wie eine Schulaula kurz vor der Vergabe der Abiturzeugnisse. Die meisten der Männer und Frauen standen noch, einige liefen suchend durch Gänge und Stuhlreihen, aber alle redeten aufeinander ein – ein Rauschen und Summen, das bis unter die hohe Decke zu steigen schien, um sich dort zu einer Klangwolke zu ballen, die sich langsam wieder herabsenkte auf die Versammelten. Am langen Tisch auf der Bühne saßen die zum Verhör geladenen Politiker, die Baukommission war vertreten durch den Mann mit der Vorliebe für grelle Schlipse. Diesmal trug der Kollege einen leuchtend roten Binder, übersät mit grünen Strichen, die wie Wahlkreuze aussahen.
    Als der Vorsitzende der Bundespressekonferenz die Sitzung eröffnete, wurde es in Sekundenschnelle still, und alle nahmen ihre Plätze ein. Das

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