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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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altgediente Ritual war zwar nichts anderes als eine hochnotpeinliche Befragung, aber man wahrte wenigstens die Formen der Höflichkeit.
    Journalisten fragen, Politiker antworten – mehr oder weniger jedenfalls, dachte Anne. Die Finanzexpertin der kleineren der beiden Regierungsparteien begann ihre Antwort auf die Journalistenfrage mit der rhetorischen Arabeske:
    »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wenn ich zunächst einmal festhalten möchte …«
    Anne wand sich auf ihrem Sitz. Verzeih, Paul, dachte sie. Aber Politiker brauchen die Girlanden – den Wortschleier, hinter dem man sich Raum schafft für das strategische Nachdenken darüber, was man besser wegläßt bei seiner Antwort.
    Ihr Blick ging durch die Reihen der Journalisten und Journalistinnen. Die meisten schauten konzentriert nach vorn, mit hochgerecktem Kinn und wachen Blicks, Stenoblock und Stift in der Hand. Einen Moment glaubte sie in dem schlanken, dunkelhaarigen Mann an der Säule in der zweiten Reihe links Peter Zettel zu erkennen.
    Aber er war es nicht. Gut, daß er es nicht ist, redete sie sich ein und lehnte sich aufatmend zurück. Die Luft wurde immer dicker, erwärmt von den Fernsehscheinwerfern und der bloßen Masse Mensch. Langsam löste sich ihre Aufmerksamkeit von dem Ritual da vorn und ging eigene Wege. Sie dachte an gestern, an ihre Panik in dem dunklen Keller, von dem sie erst später erfuhr, daß es der historische Wasserspeicher am Prenzlauer Berg war. An den Mann, der sie abgefangen hatte, als sie wie ein durchgehendes Pferd durch die dunklen Gänge gehetzt war – in der festen Überzeugung, daß jemand hinter ihr her war.
    Sie ballte die Fäuste. Und stimmte das etwa nicht? Es war jemand hinter ihr her gewesen, das war das einzige, was sie sicher wußte – und der einzige Grund, warum sich die Zweifel an ihrem Verstand in Grenzen hielten. War es Peter Zettel, der sie verfolgte? War der Hund fortgelaufen, weil er die Witterung seines Herrchens aufgenommen hatte?
    Der Sprecher des Landwirtschaftsausschusses hatte einen Scherz gemacht, und insbesondere die versammelten Männer lachten. Sie hatte den Witz nicht ganz verstanden, das Wort »Misthaufen« war drin vorgekommen, etwas, das ihrer Erfahrung nach alle Städter komisch fanden. Vor ihrem inneren Auge schwebte der Weiherhof vorbei, wie eine ferne, paradiesische Insel, bis er verschluckt wurde von einer Nebelbank – ganz wie das sagenhafte Avalon. Ob Rena wirklich alles im Griff hatte? Gestern abend am Telefon war sie ausgesprochen maulfaul gewesen. »Mutti, du nervst.« Ist man in dem Alter immer so zickig?
    Daß ausgerechnet der Amerikaner ihr zur Hilfe gekommen war, hatte sie verwundert – Jonathan Frei hieß er. Er hatte sich sogar dafür entschuldigt, als sie wieder an der frischen Luft waren, raus aus den dunklen Gängen und Räumen. Dabei mußte es jedem seltsam vorgekommen sein, wie sie da, von Furien gejagt, durch den Wasserspeicher hetzte.
    Er hatte sie hinausbegleitet ans Tageslicht, sie hatte sich geduckt in der plötzlichen Helligkeit – und unter seinen Augen, in denen sie einen prüfenden Blick wahrzunehmen glaubte. Dann hatte sie Amber gesehen.
    Der Hund saß da, als sei rein nichts geschehen und ließ sich von einem Mann in hellbraunen Hosen und einem grauen Blouson hinter den Ohren kraulen. Ihr Herz stolperte. Aber es war nicht Peter Zettel – natürlich nicht. Als der Mann sich aufrichtete, blickte sie in ein spitzes Gesicht, das sich verzog, als er sie sah. Ihr war, als ob er dem Hund etwas ins Ohr flüsterte. Amber klopfte mit dem Schwanz auf den Boden. Dann tätschelte der Mann dem Hund den Kopf, drehte sich um und ging.
    »Wer ist das?« Die Frage war voller Mißtrauen gewesen.
    »Keine Ahnung.« Sie hatte sich nach Jonathan Frei umgedreht und wieder diesen seltsamen Ausdruck in seinem Gesicht gesehen. Mit einem Mal war ihr die Szene im Wasserspeicher unendlich peinlich, weshalb sie sich zu Amber hinunterbeugte, den Hund an die Leine legte und mit einem knappen Kopfnicken in seine Richtung fortgegangen war.
    Sie fühlte, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg. Dabei konnte er wirklich nichts dafür, daß sie sich eine Schwäche erlaubt hatte. Und wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal etwas davon gemerkt – davon, daß sie sich in seinen Armen einen Moment lang geborgen gefühlt hatte. Sie hatte sich fallenlassen, hatte sich nicht mehr gewehrt gegen den festen Griff, in den er sie genommen hatte. Hatte sich angelehnt an die breite Brust, sich

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