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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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blätterte es durch, auf der Suche nach der Diskussion, deren Sinn ihr damals nicht aufgegangen war. »Wie wurde das Problem denn früher gelöst?« hatte die entscheidende Frage gelautet. Die Stelle war nicht zu finden. Sie begann von vorn, langsamer diesmal. Als sie wieder nichts fand, überprüfte sie das Datum auf dem Deckblatt des Protokolls. Es war das richtige Protokoll – das richtige, aber nicht das wahrheitsgetreue. Sie hatte ein zensiertes Protokoll in der Hand, eines, in dem jeder Hinweis darauf fehlte, daß man in der Vergangenheit in vergleichbaren Situationen eine Lösung des Problems zur Verfügung gehabt hatte.
    Anne lehnte sich zurück. Bunges Handbibliothek – es war ihr bei ihrer Ankunft schon aufgefallen, daß dort vor allem Bände standen, die sich mit dem »Dritten Reich« befaßten. Sie stand auf und nahm einen schweren Band aus dem Regal – »Die Katakombe«, ein Buch über den Führerbunker. Daneben stand ein Buch über Hitlers Tod, »Die letzten Tage im Führerbunker«, daneben Trevor-Ropers »Hitlers letzte Tage«, daneben die Hitler-Biografie von Fest und schließlich ein Band mit Karten vom alten Berlin.
    Als sie das Kartenwerk aufklappte, rutschte ein mehrfach gefalteter Bogen heraus. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich orientiert hatte. Offenbar handelte es sich um eine Karte des alten Regierungsviertels um Wilhelmstraße und Voßstraße, auf die jemand rote und grüne Linien eingetragen hatte. Sie war nicht gut im Kartenlesen. Aber wenn sie nicht alles täuschte, dann lag ein Teil des Bereichs, der rot schraffiert war, mitten im Gelände der Ministergärten, vor dem sie gestern gestanden hatte. Am Fuß des Blattes hatte eine ordentliche Handschrift einen von einem Querstrich durchzogenen Kreis gemalt und dahinter »Peter Zettel« geschrieben.
    Durchschlag – oder Kopie – an Peter Zettel, hieß das.
    War das ein Dokument der guten und engen Zusammenarbeit zweier gleichermaßen um die Zukunft Berlins bemühter Männer? Oder bahnte sich hier eine von Bunges »Problemlösungen« an – und war Peter Zettel davon informiert oder gar daran beteiligt gewesen? Bunge war tot – und Peter Zettel verschwunden. Wie hing das zusammen? Warum hatte sich Bunge vom Kirchturm gestürzt? Anne dachte an den anonymen Anrufer, daran, daß jemand im Wasserspeicher hinter ihr her gewesen war, und spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Irgend etwas war hier los, was sie nicht verstand und das sie beunruhigte – nein, verängstigte. Selbst der kühne Held von gestern, der behauptete, sie aus der Gefahr gerettet zu haben, schien ihr plötzlich verdächtig. Was spielte der Amerikaner für eine Rolle?
    Als jemand die Tür aufriß, stieß sie unwillkürlich einen spitzen Schrei aus. Fast wäre sie grob geworden zu Mechthild Zang, die mit theatralisch auf die Brust gepreßter Hand vor ihr stand.
    »Haben Sie es gehört? Beim ›Journal‹ ist jemand umgebracht worden.«
    »Peter Zettel?« Ihr Herz tat einen Sprung, und die Zang machte ein Gesicht, als ob sie ein Gespenst gesehen hätte. Dann schüttelte sie den Kopf.
    »Nicht Peter Zettel. Hans Becker.«

4
    Frank Sonnemann fühlte sich hilflos. Dieser Zustand machte ihn rasend. Die Redaktion war in Aufruhr, aber im Unterschied zu sonst fiel ihm kein geeignetes Mittel ein, sie alle wieder einzufangen und an die Kandare zu nehmen. Das Berliner Büro des »Journal« war im Begriff durchzugehen – und er war dabei, die Fassung, die Haltung und die Oberhand zu verlieren.
    Am liebsten hätte er Isolde Menzi den Füller weggenommen, den sie gegen ihre großen weißen Vorderzähne tackern ließ, und ihr mit dem Zahnarzt gedroht. Am liebsten hätte er Paula nach Hause geschickt, die mit der Kraft und Schamlosigkeit der Jugend heulte, daß ihr die Wimperntusche schwarz die Wangen hinunterlief. Am liebsten hätte er Schiffer hochkant aus dem Büro geworfen, der in einem Stapel Papier blätterte, als ginge ihn das alles nichts an. Am liebsten hätte er Lilly geschüttelt, damit ihr endlich die edle Trauer aus dem Gesicht fiel. Am liebsten hätte er sich selbst die Kündigung ausgesprochen – wegen Vernachlässigung der Fürsorgepflicht des Vorgesetzten aufgrund eklatanter Fehleinschätzung der Situation.
    Er hatte Hansi Becker auf dem Gewissen.
    Wenn er ihn nicht einem Fälscher auf die Spur gesetzt hätte, der offenbar bereits einen Menschen in den Tod getrieben hatte, dann … Die Putzfrau hatte Becker morgens gefunden – im Zimmer Peter Zettels.

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