nichts als die wahrheit
ganz anderen Gründen zu Tode gestürzt? Weil er sich, wie begründet sein Verhalten auch gewesen sein mochte, an den eigenen Vorstellungen von politischem Anstand versündigt hatte? Anne schüttelte den Kopf. Langsam begann offenbar auch sie zu glauben, was alle Welt ihr erzählte: daß Bunge etwas hatte, was unter Politikern nicht allzu weit verbreitet war: Anstand.
Sie blickte sich um. Es begann dunkel zu werden. Sie waren, ohne daß sie es richtig mitbekommen hatte, über Berlin-Mitte längst hinaus. Das Brandenburger Tor sah im Licht der Scheinwerfer unwirklich aus – wie ein Selbstzitat. Der Hund drängte nicht mehr ganz so stürmisch voran. Amber hatte sich auf die Hinterbeine gesetzt und guckte erwartungsvoll. Ohne darüber nachzudenken, ging Anne in die Knie und sah dem Tier in die Augen.
»Was weißt du?« fragte sie leise.
Der Hund schien sie anzuzwinkern und begann dann den Schwanz zu bewegen – nicht heftig, nicht freudig erregt, sondern so, als ob er sagen wollte: »Ich verstehe, was du wissen willst. Aber ich kann es dir nicht verraten.«
Sie streichelte ihm über den Kopf und stand auf. Im gleichen Moment sprang auch der Hund wieder hoch und begann sie vorwärts zu ziehen. Auch Amber folgte einem inneren Kompaß – offenbar dem gleichen, der sie leitete.
Eine Viertelstunde später standen beide am Bauzaun. Obwohl ringsum gebaut wurde, im Licht der Scheinwerfer auf den großen Kränen, schien die gesichtslose Wüstenei vor ihr jede Helligkeit verschluckt zu haben. Schatten geisterten über den Sandplatz und über die Pfütze, die wie schillernder Sirup dalag, umringt von mannshohem Unkraut, das vorwurfsvoll vertrocknete Zweige in den Himmel reckte.
Wie ein Blitz durchzuckte sie ein Bild schierer Gewalt. Sie sah, wie die Erde aufriß, wie alles, was sie barg, in einer riesigen Sandfontäne in die Luft geschleudert wurde, wie der Boden konvulsivisch ausspuckte, was man einst gewaltsam in ihn hineingetrieben hatte.
Dann ließ sie den Hund von der Leine.
Der schwarze Schatten bahnte sich seinen Weg durch die Lücke im Zaun. Sie lief ihm hinterher, er war im Zwielicht kaum noch zu erkennen und plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Sie lief trotzdem weiter und wäre beinahe gefallen, als der Boden sich plötzlich senkte. Über Geröll und dicke Betonbrocken kletterte sie nach unten, in eine Baggergrube, auf deren Sohle sich ein schwarzes Loch öffnete. Sie sah gerade noch den Schwanz des Hundes darin verschwinden.
Dann suchte sie mit ungeschickten Fingern nach dem Schalter der neuen Taschenlampe. Der Lichtschein fiel auf zerklüfteten Boden, auf verrostete Rohre, auf wie ausgerissene Fliegenbeine aus dem Beton starrende Armiereisen.
Sie sah zerborstene Stufen. Und als sie in den Schacht hineinleuchtete, sah sie am Ende der Stufen einen dunklen Gang.
Anne atmete tief ein, wie man es tut, bevor man ins Wasser springt. Der Spielkamerad, der sie damals in den Keller gelockt, das Licht gelöscht und den Schlüssel von außen umgedreht hatte, mußte gewußt haben, was das Schlimmste im Leben eines siebenjährigen Mädchens war: niedrige, dunkle, kalte Räume und verschlossene Türen. Was sie jetzt vor sich sah, war ihr persönlicher Albtraum – in der Erwachsenenversion.
»Amber!«
Ihr Mund war trocken, der Ruf war kaum hörbar und das Tier würde ihm sowieso nicht folgen. Sie war diejenige, die dem Hund hinterhergehen mußte. Anne nahm all ihren Mut zusammen und stieg hinab.
Der Lichtkegel glitt über grauen Beton, pockennarbig und feucht. Die Gewalt mußte enorm gewesen sein, unter der die massiven Treppenstufen geborsten waren. Wahrscheinlich hatte man versucht, den Eingang zu sprengen, um ihn bis ans Ende aller Tage unzugänglich zu machen. Anne hob den Kopf, als sie unten angekommen war. Über ihr rosteten Eisenträger, baumelten Lichtkabel, herausgerissen aus ihren metallenen Ummantelungen, die wie ausgreifende Tentakel aus der Wand hingen. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren.
Sie leuchtete voraus. Es war nicht viel zu sehen, der Gang machte hinten einen Knick. Als sie dort angelangt war, öffnete sich vor ihr ein langer Flur, aus dem es nach Fäulnis roch und nach etwas anderem, vertrauten, das sie nicht gleich identifizieren konnte.
Sie hörte den Hund japsen, so, als ob er ihr seinen Standort durchgeben wollte. Solange Amber da war, redete sie sich ein, konnte ihr nichts passieren. Mit dem Hund würde sie auch wieder herausfinden aus diesem Verlies, er war zuverlässiger als
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