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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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damals, als sie eine an Lungenentzündung verendete Kuh vom Abdecker hatte holen lassen. Aus dem Wagen des Mannes hatte es getropft, ein Fliegengeschwader brauste heraus, als er die Klappe öffnete, und der Geruch hatte noch Stunden später über dem Weiherhof gestanden. Rena hatte sich übergeben, während der Mann die Kuh auf den großen Haken spießte und in den Wagen zog.
    Im Lichtkegel sah sie ihre Füße, die Schuhe grau vom Betonstaub, dann den unebenen Boden und schließlich das Nichts. Vor ihr, direkt vor ihr endete der Weg. Es ging senkrecht hinunter ins Schwarze.
    Amber lag an der Wand, an den Boden gepreßt, die Schnauze auf die Pfoten gelegt und stieß einen leisen Jammerlaut aus. Im Lichtkegel der Taschenlampe sah sie neben dem Hund etwas liegen, einen kleinen, ungeheuer alltäglichen Gegenstand, der sie rührte, weil er so gar nicht hierherpaßte. Sie nahm ihn auf und steckte ihn in die Tasche.
    Dann richtete sie den Lichtstrahl hinunter in den Abgrund.
    Das Wasser unten im Krater glänzte im Licht der Lampe wie flüssiger Teer. Die zwei schwarzen Höcker, die aus der Wasseroberfläche ragten, sahen wie blankpolierte Steine aus. Als sie den Lichtkegel weiter nach rechts schwenken ließ, erkannte sie, daß es zwei Fußspitzen waren, die zu zwei Beinen gehörten. Und die gehörten – diesmal schrie sie leise auf.
    Er mußte dort unten auf einer Art Vorsprung gelandet sein, so daß nur seine Beine im Wasser lagen. Im Tod hatte er die Arme ausgebreitet und den Kopf nach hinten geworfen. Sie erkannte ihn sofort.
    Anne stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte die langen letzten Sekunden. Im Grunde ihres Herzens hatte sie ihn unter den Lebenden gewähnt, vibrierend vor Energie und selbst in seiner Bosheit noch attraktiv. Der Leiche da unten sah man keinen Funken Leben mehr an, sie mußte schon länger dort liegen. Tage, vielleicht Wochen.
    Er mußte gestolpert und gefallen sein. Seltsam, dachte sie. Wenn ihre Vermutung stimmte, dann hatte er ziemlich viel Übung beim Explorieren eingefallener Bunker und Schächte gehabt. Anne merkte, wie ihr der Mund trocken wurde. Und wenn er nicht gestolpert und gefallen war, was dann?
    Als etwas Kühles, Feuchtes gegen ihre Hand stieß, schrie sie wieder auf. Amber war zu ihr hingerobbt und versteckte die Schnauze in ihrer Hand, Schutz suchend. Anne redete beruhigend auf den Hund ein. Hatte man nicht von rührenden, traurigen Fällen gelesen, in denen Hunde nicht vom Grab ihres Herrn wichen, bis auch sie gestorben waren?
    Sie merkte, wie die alte, vertraute Panik ihr die Kehle zuschnürte. Hoffentlich fand sie wieder hinaus – mit Amber. Hoffentlich war in der Zwischenzeit der Eingang nicht verschüttet worden oder zugesperrt, hoffentlich stand die Treppe noch, die nach oben führte, in die kühle, frische Herbstluft, in die Freiheit. Sie stolperte den Weg zurück, stieß sich das Knie, als sie zu hastig über die Barriere aus Geröll und Steinen kletterte, scheuerte sich die Hand auf, mit der sie sich festhalten wollte. Ihre Handballen brannten wie Feuer. Auf der anderen Seite der Barrikade ließ sie sich hinunterrutschen. Als sie wieder aufgestanden war, sah sie mit Erleichterung den schwarzen Hundekopf hinter sich auftauchen.
    Sie lief und stolperte den Gang hinunter, der Lichtkegel der Taschenlampe schwankte von rechts nach links und wieder zurück. Amber fing wieder an zu fiepen und dann zu kläffen.
    »Shhhh!« Anne versuchte, das Tier zu beruhigen. Sie wußte nicht, wer und was da draußen womöglich auf sie wartete – oder wen und was das aufgeregte Gebell auf sie aufmerksam machen könnte. Die Bilder, die sie vorhin in der Dunkelheit gesehen hatte, verfolgten sie. Wieder glaubte sie schneidende Stimmen und marschierende Stiefel zu hören.
    Das Geräusch, das an ihr Ohr drang, paßte nicht zu diesen Phantasien. Es war nur ein Hauch, es war nur ein Flüstern aus weiter Ferne. Und plötzlich glaubte sie ihren Namen zu hören – ein hingehauchtes »Anne«. Sie blieb stehen, lauschte in die Dunkelheit hinein und spürte ihren Herzschlag in der Kehle.
    Halluzinationen, dachte sie, eben wirst du verrückt.
    Sie zwang sich, die Lampe hochzunehmen, die plötzlich unendlich schwer zu sein schien, leuchtete Decke und Wände ab und sah im Lichtkegel schließlich einen staubigen Schuh.
    Sie hob die Lampe noch höher, über ihren Kopf. Der Mann saß auf dem Boden, an die Wand gelehnt, das Gesicht so grau wie der Beton ringsum, die Augen geschlossen.
    »Jonathan«,

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