Nichts als Erlösung
Julia ist wieder auf der Terrasse, aber nicht allein, sie thront auf den Schultern von Kurt, wühlt in dessen Haar, juchzt und strahlt.
Die Karten vom Steiner Wald liegen noch auf dem Boden, Kurt darf nicht reinkommen, er muss – aber es ist zu spät, Kurt steht schon im Wohnzimmer.
»Morgen, Eric, entschuldige die frühe Störung, aber kannst du mich gleich mit in die Stadt nehmen? Marion braucht heute den Wagen und – was hast du denn gemacht?«
»Keine Ahnung, ist wohl irgend’ne Allergie.«
Eric fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Es juckt wie Hölle, aber das ist egal. Er muss Kurt loswerden, die Karten wegräumen, schnell, sofort, vielleicht hat Kurt die ja noch gar nicht so genau betrachtet.
Er hört Schritte auf der Treppe, Sabines Schritte.
»Um halb sieben bei dir«, sagt er zu Kurt. Zu hastig, zu schroff, er kann es nicht ändern. Er hebt Julia von Kurts Schultern. Sie protestiert, windet sich, beginnt zu heulen. Und dann steht Sabine auch schon in der Küche, nur in ein Handtuch gewickelt.
»Was ist hier denn los?«, fragt sie, und das löst Kurt endlich aus seiner Erstarrung, doch bevor er sich verdrückt, wirft er noch einen langen Blick auf die Karten.
»Jemand soll hier in Südhessen einen römischen Bronzeschild gefunden und illegal verkauft haben«, sagt er langsam, »hast du das schon gehört?«
***
Die Stadt ist aufgeheizt, fiebrig, selbst morgens um fünf sind es knapp 30 Grad. Manni läuft los, über die Maybachstraße in den Mediapark und von dort Richtung Grüngürtel, seine gewohnte Route. Der Himmel ist blassgelb. Der Weg im Park staubt unter seinen Schritten, in den Platanen kreischen Vögel, als hätten auch sie vom Sommer genug. Frührentner-Kinderheim-Frohsinn-Erzieher. Sobald er im Rhythmus ist, springen die Worte in sein Hirn – Erinnerungen an den gestrigen Ermittlungstag, Satzfetzen, Bilder, Details aus den Akten, die Vernehmung des Maklers, das Haus in Hürth, das Kinderheim, quirlen durcheinander und verknüpfen sich neu. Frohrentner. Kindersinn. Früherzieher. Hat sich eines der Vollenweider-Kinder, oder beide gemeinsam, für eine vermutlich eher freudlose Jugend gerächt?
Sie haben keine Fotoalben in dem Haus gefunden. Nicht ein einziges Bild von den Vollenweiders, nicht ein einziges aus dem Kinderheim, nur das Foto auf Miriams Schreibtisch. Aber es muss zumindest ein paar mehr Fotos gegeben haben als die wenigen von den Vollenweiders mit den Heimkindern, die seit 20 Jahren in den Ermittlungsakten liegen. Vielleicht hat ja Jonas die Alben an sich genommen. Oder er hat sie vernichtet. Er oder seine Schwester. Oder war diese Familie so neurotisch gewesen, dass sie ihr Familienleben nicht dokumentierte?
Sein eigener Vater fällt ihm ein. Günter, der Fernfahrer, der sich noch im Rollstuhl aufführte wie ein despotischer König, der seine Untertanen nach Belieben tyrannisiert. Frührentner, Invalide – was heißt das schon? Wer kann einfach ablegen, was er Jahrzehnte gelebt hat? Doch keiner der Zeugen, die vor 20 Jahren vernommen wurden, hat Hans Vollenweider als Tyrannen beschrieben. Konservativ sei er gewesen, aber allgemein respektiert. Ein erfahrener Pädagoge, der mit Lob und Ehre in den Ruhestand verabschiedet worden war. Diskret sei er gewesen, auch was sein Privatleben angehe, hatte es übereinstimmend geheißen. Einzig mit seinem Sohn habe es wohl Probleme gegeben.
Manni läuft schneller, der Schweiß brennt auf seiner Haut, seine Lunge pumpt, aber er gibt nicht nach, beschleunigt noch mehr und erreicht seinen üblichen Wendepunkt in knapp acht Minuten. Er macht ein paar Dehnungen und kehrt wieder um. Bis fünf Jahre vor dem Mord hatten die Vollenweiders in einer Einliegerwohnung im Kinderheim gewohnt. Das ist eine Tatsache, genauso wie das Heimfoto im Zimmer der Tochter. Frohsinn. Ein Leben im Heim. Vor einiger Zeit kam mal so ein Fernsehbericht. Dramatisiert natürlich, zugespitzt auf Missbrauchsskandale, Misshandlungen, Ausbeutung. Liegt hier das Motiv für dieses Verbrechen? Ging es unter der Leitung Vollenweiders im Kinderheim längst nicht so pädagogisch korrekt zu, wie alle das behaupten? Doch wenn der Täter kein Familienmitglied war, war es ihm gelungen, am Tatort keinerlei Spuren zu hinterlassen: keinen Abdruck, kein Haar, nicht das winzigste Hautschüppchen. Und das ist schlicht unmöglich, es sei denn, die Kriminaltechniker haben damals etwas übersehen. Manni drosselt das Tempo, verfällt für den letzten Kilometer in einen lockeren
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