Nichts als Erlösung
sich davon, richtet jemand ihn hin.
Sie stehen still, sehen sich um, lassen das Szenario auf sich wirken.
»Man bekommt ja schon einiges zu sehen, aber das hier …«, sagt Manni.
»Ja.« Judith nickt. Das hier ist anders. Krank. Ein Tatort, den sie aus einem Dornröschenschlaf wecken. Sie muss Manni von den Fotos erzählen, bald, sobald sie hier fertig sind und ein paar Minuten Ruhe haben, fast muss sie lächeln bei diesem Gedanken. Der kriegersche Verfolgungswahn, der diesmal kein Wahn ist, sondern eine angemessene Reaktion. Manni kramt seine Fisherman’s aus der Hosentasche, hält ihr die Tüte hin, nimmt sich dann selbst. Von unten dringen die Stimmen der Spurensicherer herauf. Jemand kommt im Laufschritt die Treppe hoch. Dannenberg. Kurz darauf auch Schneider. Dannenberg stoppt abrupt, sobald er im Schlafzimmer steht, und pfeift durch die Zähne.
»Herrgott noch mal, das sieht exakt so aus, wie ich es in Erinnerung habe!«
Judith zeigt auf die Wand, von der jemand die Tapeten heruntergeschnitten hat.
»Wart ihr das damals?«
Dannenberg nickt. »Die KTU hat die Spritzmuster des Bluts konserviert. Auch das Kopfteil des Bettes haben die Kollegen damals in die Asservatenkammer geschafft.«
Sie betrachtet das ausgeweidete Bettgestell, das ohne Decken und Matratzen wie eine überdimensionale Pritsche wirkt, versucht sich die beiden Menschen darin vorzustellen. Den Täter, der sie im Schlaf überrascht. Oder hat Hans Vollenweider seine Ehefrau Johanna umgebracht? Kam die Tochter hinzu, geweckt von den Schreien und Schlägen, und musste dann ebenfalls sterben? Oder hat die Tochter die Eltern umgebracht? Allein – oder gemeinsam mit dem Sohn? Der Raum gibt es nicht preis. Nicht das Motiv dieser Tat, nicht die Fakten, nicht das, was Jonas hier am letzten Freitag gedacht oder empfunden haben mag. Die Luft ist abgestanden, muffig. Die altmodischen Nachtschränkchen tragen einen Pelz aus Staub.
Sie gehen weiter die Treppe hinauf unters Dach, zum Zimmer der Tochter. Die Hitze stülpt sich über sie wie eine Glocke, der Raum ist so warm, dass ihr der Schweiß aus allen Poren bricht und unter ihrer Bluse über Rücken und Brüste läuft. Alle schwitzen sie, und die Luft wird noch schlechter.
»Als wir damals kamen, war das Bettzeug noch da«, sagt Schneider. »Die Decke war zurückgeschlagen, als ob Miriam gerade erst aufgestanden wäre. Auf dem Stuhl lagen Rock, T-Shirt und Unterwäsche.«
»Ist es sicher, dass sie es war, die in diesem Bett geschlafen hat?«, fragt Judith.
»Laut Kriminaltechnik ja, die hatten damals Decken, Laken, Kissen, Matratze und Teppich eingesackt und genau untersucht. Das ganze Zimmer wurde außerdem mit Luminol gecheckt. Hier ist kein Blut geflossen, so viel steht fest.«
Judith sieht sich um, versucht sich vorzustellen, wie Miriam hier gelebt hat, wer sie war. Kein Computer, kein Handy, kein eigener Fernseher, doch das war 1986 normal. Über dem Bettgestell hängt das Ölgemälde eines Bergsees. Auf dem sehr schmalen Schreibtisch liegen verstaubte Psychologie-Lehrbücher, ein Schreibblock, ein Glas mit Stiften, ein Hefter, ein Lineal.
»Miriam war 21«, sagt Manni hinter ihr. »Sie hat studiert. Sie war hübsch. Warum hat sie so gelebt, hier in diesem Kabuff? Warum wollte sie sogar ihren Geburtstag nur mit ihrer engsten Familie feiern? Hatte sie keine Freundinnen, keinen Freund?«
»Sie hatte einen Freund«, sagt Dannenberg. »Der lebte damals auch hier in Hürth, war aber im Tatzeitraum nachweislich im Urlaub am Gardasee.«
»Ohne Miriam.«
»Mit zwei Freunden zum Surfen.«
Judith geht zu dem Regal neben dem Schreibtisch und betrachtet die Bücher: Fachliteratur fürs Studium, Mädchenromane und Reclam-Klassiker aus dem Schulunterricht. In einem staubigen Samtkästchen liegt Modeschmuck. In einer Lücke zwischen den Büchern steht ein silbern gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto. Judith beugt sich herunter, erkennt ein Gebäude darauf, eine Art Gehöft mit einer Inschrift über der Eingangstür, ein riesiger Baum scheint das Haus zu beschützen.
»›Kinderheim Frohsinn‹«, liest sie vor.
Manni geht in die Hocke, betrachtet das Foto mit zusammengekniffenen Augen, richtet sich wieder auf.
»Klingt irgendwie nach Nazischeiß«, sagt er.
»Was willst du damit sagen?«, fragt Schneider.
»Frohsinn.« Manni zuckt die Achseln. »Das stinkt, wenn du mich fragst. Da stimmt irgendwas nicht. Wieso stellt sie sich dieses Foto auf?«
»Sie hat Psychologie studiert«, sagt Dannenberg. »Sie
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