Nichts als Erlösung
deine Großeltern und deine Tante umgebracht? Hoffentlich muss Lea Wenzel zumindest diesen letzten Satz niemals sagen. Dein Vater war ein Mörder. Wie kann man mit einem solchen Wissen leben? Wenn überhaupt, dann nur, wenn es keinen Zweifel daran gibt, sondern Erklärungen und Beweise. Eine abgeschlossene Ermittlung. Weil nur die Wahrheit das eigentlich Unerträgliche erträglich macht. Nicht sofort, aber später.
Neun Uhr, in dreieinhalb Stunden muss sie am Flughafen sein. Judith steht auf und holt ihre Post. Zwischen Umlaufmappen, Berichten und einer Ausgabe des KURIER liegt ein weiterer anonymer Brief für sie, die altmodischen Lettern sind ihr fast schon vertraut. Sie streift Handschuhe über, bevor sie den Umschlag vorsichtig öffnet. Die anderen Briefe und Fotos hat sie gestern Nacht in die Kriminaltechnik gegeben. Das Foto, das diesmal herausfällt, ist nicht so minimalistisch, es zeigt das gesamte Wohnhaus der Vollenweiders: die ockerfarbene Fassade, den dunkelbraunen Sockel, die blinden Fenster, die Eingangstür. Die Auflösung des Rätsels. Judith dreht das Foto herum, überprüft das Innere des Umschlags. Keine geschriebene Botschaft, genauso wie in den drei anderen Briefen. Der Kölner Poststempel trägt das Datum des gestrigen Tages.
Ihr Herz schlägt zu schnell und viel zu laut. Der Täter weiß, dass wir das Haus gefunden haben. Er will sogar unsere Aufmerksamkeit darauf lenken. Das Haus ist ihm wichtig. Der alte Tatort. Etwas verbirgt sich dort, etwas, das wir noch nicht gefunden haben oder nicht richtig verstehen. Stimmt das, oder ist das nur eine Fantasie? Ist der Absender dieser Briefe womöglich gar nicht der Täter? Doch, denkt Judith, doch. Er will, dass wir wissen, dass er in unserer Nähe ist, dass er uns beobachtet. Nein, nicht uns, mich. Denn warum sonst schickt er mir diese Briefe?
Sie lässt das Foto auf den Schreibtisch fallen, greift nach links, greift ein weiteres Mal ins Leere. Ihre Lunge ist zu leer, ihr Herz schlägt zu laut. Verdammt. Verdammt! Jetzt reiß dich zusammen, KHK Krieger. Sie schlägt den KURIER auf, findet den Bericht auf der dritten Seite. ›Altstadtmord: Spur führt zum Todeshaus‹. Das Foto zeigt sie am Gartentor der Vollenweiders, wie sie die Spurensicherer instruiert.
Sie schleudert die Zeitung in den Papierkorb. Zobel, die Ratte. Er muss ihr gefolgt sein, oder seine Verbindungen ins KK 11 sind noch besser, als sie angenommen hat. Oder ist er der Täter? Unsinn, dazu ist er zu jung, 1986 war er noch ein Kleinkind.
Raus, sie muss raus, sich bewegen, etwas tun. Die Beklemmung abschütteln. Auf einmal ist sie froh, dass sie gleich nach Samos fliegt, auch wenn es schwer werden wird mit Lea Wenzel. Sie schiebt das Foto und den Briefumschlag in eine Beweismitteltüte, beschriftet sie und läuft über den Flur zu den Aufzügen. In der Kabine presst sie den Hinterkopf an die Metallwand und starrt sich in die Augen, registriert halbbewusst, wie die Kühle in ihren Körper dringt, was sie seltsamerweise beruhigt. Auch im Kellerlabor der Kriminaltechnik schlägt ihr Kälte entgegen. Asservaten in Tüten, Kisten und Kartons stapeln sich auf den Ablagen, akribisch nummeriert. Abklebeband, Chemikalien und Geräte liegen daneben. In einer Ecke bringen die beiden Munzingers mit Pinzetten mikroskopisch winzige Flusen auf Objektträger auf.
»Nichts, absolut nichts, keine Fingerabdrücke oder Fasern, nicht einmal Speichelreste an der Briefmarke«, sagt Karin Munzinger statt einer Begrüßung. »Ganz offenbar tütet dein Brieffreund seine Nachrichten unter Laborbedingungen ein.«
Ein Perfektionist also. Oder ein Profi. Stumm hält Judith der KTU-lerin die Papiertüte hin.
»Schon wieder eins?« Karin Munzinger runzelt die Stirn.
»Kannst du sagen, mit was für einer Kamera er fotografiert?«
»Dazu bräuchte ich die Datei, aber vermutlich digital und nicht allzu hochwertig. Die Fotos sind jedenfalls Ausdrucke Marke Homeoffice, das Fotopapier stammt von Aldi. Welcher Drucker, welche Schreibmaschine …«, Karin Munzinger wedelt mit ihrer Pinzette in Richtung der Asservaten. »Sei so nett und gib uns etwas Zeit!«
Zeit, Zeit. Das immer gleiche Thema. Zeit, die sie nicht haben und doch haben müssen. Sie fährt wieder hoch ins KK 11, denkt an das Meer und dann vollkommen unvermittelt an das Pferd und die Landschaft mit der es verwachsen zu sein scheint. Letzte Nacht hat sie geträumt, dass das Pferd vor ihr weglief. Ein fliehender Schatten in Weiß, fast ohne Kontur vor
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