Nichts als Knochen
schien ehrlich verwirrt. Sie hielt Karsten für einen klugen Kopf, der Dinge glasklar analysieren konnte. Für besonders feinfühlig hatte sie ihn jedoch noch nie gehalten.
»Na, das ist doch offensichtlich!« Karsten sah sie ungeduldig an. »Sie widersprechen mir nicht, Sie streiten nicht mit mir. Sie gehen noch nicht mal an die Decke, wenn ich einen Ihrer Fälle ad acta lege. Also was ist Ihnen über die Leber gelaufen?«
Rebecca war gegen ihren Willen rot geworden und suchte fieberhaft nach einer passenden Antwort. Aber es wollte ihr nichts einfallen. Schließlich hob sie resigniert die Schultern und murmelte: »Es ist … was Privates.«
Gottschalck zögerte, bevor er antwortete: »Verstehe.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Als Rebecca gerade aufstehen wollte, um zu gehen, hielt er sie mit einem Blick zurück.
»Rebecca, Sie können mir glauben, dass ich nachfühlen kann, was Sie empfinden. Aber Sie müssen zusehen, dass Sie zumindest während der Arbeit den Kopf frei kriegen von diesen Dingen. Sonst wird sich das negativ auf Ihre Arbeit auswirken. Am besten ist, Sie entspannen sich dieses Wochenende mal und unternehmen irgendetwas, das Sie ablenkt. Nächste Woche kommen Sie dann ins Büro und lassen Ihren privaten Ärger zu Hause. Einverstanden?«
Rebecca nickte zögernd.
»Ich versuch 's.«
Schnell erhob sie sich und verließ das Büro, ohne sich umzusehen.
Maria Laach
D ario blinzelte zwischen seinen langen, schwarzen Wimpern hervor und versuchte einen Blick auf Bruder Andreas zu erhaschen. Sie saßen beide in der Bibliothek des Klosters und brüteten über ihren Büchern.
Dario war jetzt seit zwei Wochen hier zu Gast, und bisher hatte er noch nichts von dem herausfinden können, was ihn interessierte. Doch jetzt schien er endlich eine heiße Spur zu haben. Und durch eine glückliche Fügung schien diese Spur auch noch direkt zu Bruder Andreas zu führen. Fasziniert starrte er zwischen die verschnörkelten Streben der metallenen Wendeltreppe hindurch auf die strohblonden Haare, die einen scharfen Kontrast zu der schwarzen Kutte bildeten. Bruder Andreas stand vor einem der hölzernen Bücherregale und schien nach einem Buch zu suchen. Die sonst so glatte, hohe Stirn war in konzentrierte Falten gelegt. Langsam kam er, immer noch nach dem Buch suchend, Schritt für Schritt näher an den kleinen Tisch heran, an dem Dario saß und ihn beobachtete.
Ein leichter Schauer jagte Darios Rücken hinunter. Rasch senkte er den Blick und biss sich auf die Unterlippe. Er durfte noch nicht einmal daran denken. Er durfte nicht zulassen, dass es wieder so viel Macht über seinen Körper bekam. Und doch spürte er, dass es da war und von Tag zu Tag stärker wurde. Dario zuckte unwillkürlich zusammen, als Bruder Andreas an seinen Tisch trat und ihn ansprach.
»Es ist Zeit für die Vesper, Bruder Giordano. Wir sollten aufbrechen.«
Ein kleines, sympathisches Lächeln spielte um seine Lippen, als er auffordernd auf Dario heruntersah.
»Sicher, Bruder. Es ist schon spät.«
Dario schob seinen Stuhl zurück, stellte das Buch, in dem er gelesen hatte, zurück und folgte mit eiligen Schritten seinem nur wenige Jahre älteren Ordensbruder. Interessiert beobachtete er, wie Bruder Andreas aus den Tiefen seines Gewandes ein kleines Plastikfläschchen hervorzog, die Verschlusskappe öffnete und die darunter liegende Düse vor den geöffneten Mund hielt. Ein kurzer Druck auf den Pumpmechanismus beförderte einen Schwall des zerstäubten Flascheninhalts in seinen Mund, und er sog gleichzeitig die Luft tief in seine Lungen.
»Ich bin Asthmatiker«, erklärte Bruder Andreas mit einem Seitenblick auf die unausgesprochene Frage in Darios Augen.
»Spötter behaupten, das kommt daher, dass ich Tag für Tag die Nase in staubige Bücher stecke und jetzt auch noch die Oberherrschaft über die Schatzkammer des Klosters habe.«
Er ließ ein ansteckendes Lachen hören und schritt kräftig aus. Dario hatte Mühe, Schritt zu halten, und war etwas außer Atem, als sie den Kreuzgang erreichten, wo die meisten anderen Mönche schon versammelt waren.
»Darf ich mich in der Schatzkammer mal umsehen?«, fragte er, als sie stehen blieben, um sich für den Einzug in die Kirche aufzustellen.
»Sicher, Bruder Giordano. Wir können morgen früh nach der Morgenhore zusammen hinuntergehen.«
Dario lächelte zufrieden, während er seinen Platz am Ende der Schlange einnahm. Als einer der Letzten durchschritt er einen der beiden schmalen Torbögen,
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