Nichts bleibt verborgen
Ahnung als Gewissheit gewesen war, spukte jetzt durch sein Hirn und quälte ihn ohne Unterlass.
Warum hatte er nicht darauf reagiert? Warum hatte er nicht begriffen, dass es für dieses Geräusch nur eine einzige logische Erklärung geben konnte, nämlich diejenige, dass sich außer ihm noch ein schlafender Mensch im Schuppen befand? Wahrscheinlich weil er zu diesem Zeitpunkt in höchster Erregung und wie von Sinnen gewesen war. Weil das Blut in seinem Kopf gepocht hatte und er Einbildung und Realität nicht mehr hatte unterscheiden können. Aber diese Erklärung beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil. Sie raubte ihm schier den Verstand.
Er fragte sich, ob es möglich war, sich im Laufe der Zeit mit solch einer Tat abzufinden. Nein, nicht Tat. Mit solch einem Unglück. Er beschloss, die Sache im Stillen nur noch als Unglück zu bezeichnen. Denn er hatte es doch nicht gewollt. Er hätte sich in seinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können, dass so etwas möglich wäre. Es gab doch so viele Menschen auf der Welt, die etwas Schlimmeres getan hatten als er. Die entführt, erpresst und gemordet hatten. Wie konnten all diese Menschen nur Tag für Tag weiterleben und so tun, als sei nichts geschehen?
Und er selbst? Würde er je wieder ein normales Leben führen können? Er redete sich ein, dass es mit der Erinnerung so wie mit den Fotos früherer Tage war. Sie verblassten allmählich, bis man sich kaum noch vorstellen konnte, dass sie etwas zeigten, was einmal Realität gewesen war. Und mit der verblassenden Erinnerung würden auch die Schuldgefühle nachlassen.
Doch im Grunde war ihm klar, dass dies eine verzweifelte Hoffnung war. Er würde mit seiner Schuld leben müssen. Er wusste nur nicht, wie ihm das gelingen sollte.
Kapitel 16
»Hatte mich schon immer gefragt, wer hier eigentlich wohnt«, sagte Gustavsen und musterte die steinernen Löwen, die heute besonders hochnäsig in die Gegend guckten. »Hübsches Familienwappen übrigens, ich glaube, so was kann man für hundert Kronen im Internet bestellen.«
»Vielleicht haben sie es ja selbst entworfen«, entgegnete Ohlsen. »Nur dass sie statt der Hellebarden einen Staubsauger im Wappen führen sollten. Wollen wir dann?«
»Selbstverständlich.« Gustavsen drückte auf den goldenen Klingelknopf. Auf seinem Kamelhaarmantel, der heute Premiere hatte, ließen sich luftige Schneeflocken nieder. Die kleine Kamera über der Doppelgarage schwenkte in ihre Richtung. Sonst geschah nichts. »Das ist ja hier wie beim Geheimdienst.«
»Du siehst auch aus wie ein Geheimagent«, bemerkte Ohlsen spöttisch.
Gustavsen drückte noch mal. »Rita hat eben Geschmack.«
Es knackte in der Gegensprechanlage. »Ja, bitte?« meldete sich eine knisternde Frauenstimme.
Gustavsen nahm seinen Hut ab, warum auch immer. »Guten Tag, wir kommen von der Kriminalpolizei Oslo und hätten Ihnen gerne ein paar Fragen gestellt«, sagte er mit betont deutlicher Aussprache. »Wenn Sie bitte so freundlich wären, uns hereinzulassen.«
Die Gegensprechanlage verstummte. Sie warteten. Nichts geschah.
»Ich glaube, du warst eine Spur zu höflich«, sagte Ohlsen und drückte mehrere Sekunden lang auf die Klingel. Als es in der Gegensprechanlage rauschte, hielt er seinen Dienstausweis in die Kamera. »Haupt kommissar Ohlsen, Kriminalpolizei. Entweder, Sie machen uns jetzt die Tür auf, oder wir kommen mit einem Durchsuchungsbeschluss wieder.«
Es dauerte keine zwei Sekunden, bis die beiden Flügel des wuchtigen Eingangtores auseinanderglitten.
»Geht doch«, brummte Ohlsen.
»Ich wette, die haben auch einen Lift, mit dem man gemütlich nach oben fahren kann«, keuchte Gustavsen, während sie die steilen Stufen zum Eingang emporstiegen.
»Wenn du nicht so eine Couch-Potato wärst, würde dir das nichts ausmachen«, gab Ohlsen ungerührt zurück.
Am oberen Ende der Treppe erwartete eine braun gebrannte, gertenschlanke Gestalt die beiden Polizeibeamten. Ohlsen musste an eine stolze Aztekenpriesterin denken. Mit stramm nach hinten gebundenen Haaren und vor der Brust verschränkten Armen stand sie majestätisch auf dem Hügel, auf dem ihr Tempel errichtet war.
»Ohlsen, Kriminalpolizei«, wiederholte der Hauptkommissar, als sie sich gegenüberstanden. »Und das ist mein Kollege Gustavsen.« Dieser lüftete seinen Hut.
Die Frau mit dem wettergegerbten Gesicht, das von einer Vielzahl winziger Fältchen durchzogen wurde, streckte Ohlsen huldvoll ihre Hand entgegen. Vielleicht erwartete sie einen
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