Nichts ist endlich - Miller, K: Nichts ist endlich - The eternal ones - What if love refused to die: Jugendroman
Imogene, an einem kleinen Stapel aber klebten Zettel mit Maes krakeliger Handschrift darauf. Auf zweien davon stand HAVEN.
Haven wuchtete den oberen Karton vom Stapel und riss ungeduldig den Deckel herunter. Darin lag ein Packen Papiere. Ihr Zeugnis aus der ersten Klasse. Geschwätzig. Vergisst bisweilen die Unterwäsche. Eine Mitteilung vom Direktor aus dem Jahr 1999. Haven hielt es heute für angebracht, einigen ihrer Klassenkameraden die Wahrheit über den Klapperstorch zu erzählen. Bitte erklären Sie ihr, dass ein solches Verhalten vollkommen inakzeptabel ist … Zahnarztrechnungen. Selbst gebastelter Weihnachtsbaumschmuck. Eine Kinderbibel.
Enttäuscht schob Haven die Kiste zur Seite. Sie war hier heraufgekommen, um nach etwas – irgendetwas – zu suchen, das eine Vision in ihr auslösen könnte. Ihr Drang, Ethan zu sehen, war mittlerweile zu stark, um ihn unter Kontrolle zu halten. Obwohl sie noch nie Drogen genommen hatte, wusste Haven zum ersten Mal in ihrem Leben genau, wie es sich anfühlte, nach etwas süchtig zu sein.
Im zweiten Karton, unter ein paar Büchern und einer ordentlich gefalteten Babydecke, fand sie schließlich, was sie gesucht hatte. Einen Stapel Zeichnungen, Buntstift auf weißem Druckerpapier. Obwohl sie ungelenk wirkten und ganz offensichtlich von unsicherer Kinderhand gefertigt worden waren, zeigten sich darin bereits erste Hinweise auf echtes Talent. Haven zog die Blätter aus der Kiste und kniete sich auf die rauen Holzdielen. Überrascht stellte sie fest, dass sie einige der Menschen und Orte auf den Bildern tatsächlich erkannte. Die arrogant wirkende blonde Frau mit hoch erhobener Nase und dem Anflug eines höhnischen Lächelns auf den Lippen war Constances Mutter. Der strenge ältere Herr mit der Brille war ihr Vater; er hieß Bernard oder Bertrand oder Benjamin. Er und seine Frau lebten in dem Gebäude mit den zwei Türmen und Blick auf den Central Park, das sie ebenfalls gezeichnet hatte. Doch auf den meisten Bildern war ein junger Mann mit kastanienbraunem Haar zu sehen. Ethan. Haven hielt inne, als sie eines davon betrachtete. Sie fühlte sich regelrecht gefangen von den grünen Augen, die sie von dem Papier anstarrten. Irgendetwas an der Zeichnung raubte ihr den Atem. Die Luft auf dem Dachboden schien dicker zu werden, und Haven fühlte, wie ihre Kopfhaut zu kribbeln begann. Sie wappnete sich für die Vision, die sie jeden Moment überkommen würde, und schon lösten sich die Wände um sie herum auch schon in Dunkelheit auf, und Haven spürte warmen Wind auf der Haut.
Die Brise wehte ihr den Hut vom Kopf. Er flog über die Piazza und landete zu Füßen eines jungen Mannes, der ganz in der Nähe stand. Sie hatte ihn schon vor ein paar Minuten bemerkt, als er sie von seinem Platz in einem Straßencafé aus angestarrt hatte. Während sie zu ihm hinüberlief, ließ sie den Blick über die staubige Piazza wandern, auf der Suche nach dem blauen Kleid ihrer Mutter. Irgendwie hatten sie sich bei ihrer Besichtigung der römischen Brunnen verloren, und obwohl sie eigentlich zur Suite ihrer Mutter ins Ritz hatte zurückkehren wollen, hatten die schmalen Gässchen sie stattdessen hierhergeführt, so als wäre sie einem vertrauten Weg gefolgt. Als sie schließlich auf der Piazza Navona stand, überkam sie die seltsame Empfindung, schon einmal dort gewesen zu sein. Es war ein Gefühl, das sie schon seit ihrer Ankunft in Rom quälte. Sicher spielte ihr Gedächtnis ihr mal wieder einen Streich.
Jetzt ging sie auf den jungen Mann zu und hoffte, dass er nicht hören konnte, wie sehr ihr das Herz in der Brust klopfte. Er war nicht älter als zwanzig und außergewöhnlich gutaussehend, mit kastanienbraunem Haar und einem Gesicht, das sie an die Apollostatue erinnerte, die sie in den Vatikanischen Museen entdeckt hatte. Sie war derart verzaubert vor dem nackten Marmorgott stehen geblieben, dass ihre Mutter es regelrecht unschicklich fand.
»Buon giorno« , sagte der Mann und hielt ihr ihren Hut hin.
»Hallo.« Ihre Kehle war trocken, ihre Stimme rau.
»Sie sind Amerikanerin. So ein Glück.«
»Ich komme aus New York.« Sie hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. »Kennen wir uns?«
Ihr fiel auf, dass sein Lächeln ein kleines bisschen schief war, ein winziger Makel, der ihn nur noch perfekter machte.
»In diesem Leben noch nicht. Ich bin Ethan Evans.«
»Constance Whitman.«
»Wie gefällt Ihnen Rom, Constance?«, fragte Ethan. Er hatte den Blick kaum von ihrem
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