Nichts Weißes: Roman (German Edition)
ihr gut eingekauft?«, fragte der Herausgeber.
»An- und Verkauf«, sagte Volpe. »Der Gärtner, das Wasserzeichen, das Revolutionsjournal und die Fragmente unterschriftsreif, drei weitere ernsthaft nachgefragt, der Rest Bla-bla.«
»Wer macht das Wasserzeichen?«
»Einaudi.«
»Well done.« Und schon waren sie wieder draußen. Dennoch flatterte unter dem rechten Scheibenwischer ein verdächtiger Zettel.
»Wir haben en Knöllschen!«, rief Marleen.
»Aber verdient!«, rief Volpe zurück, der sich von München bis Nördlingen selbst hinters Steuer setzte und wieder die Schubertlieder spielen ließ.
An ihrer Wohnungstür fand Marleen eine Notiz in gestochener Handschrift:
»Sehr geehrtes Fräulein, aufgrund des Todesfalls möchten wir Sie bitten, die Einliegerwohnung bis zur Mitte der Woche zu räumen! Balduin Feßmann und Frau«.
Am Montag erschien Marleen vor acht Uhr in der Druckerei, aber Uli Steidle war schon da. Er begrüßte sie, ohne ihr in die Augen zu sehen. Hermann hatte, trotz Schwester, keinen Tag an der Setzmaschine versäumt, aber seine Trauer drückte auf die Stimmung der Belegschaft, so dass Steidle mit seiner Spaßlosigkeit nicht auffiel, Marleen aber begriff durchaus. Am Abend passte sie ihn ab, lehnte sich wie eine Degas’sche Tänzerin auf einen Stapel Druckbögen, fasste ihn kurz am Handgelenk und fragte, ob er Zeit habe, in der Wirtschaft mit ihr zu essen. Es schoss eine Röte in sein Gesicht; er sagte ja und wandte sich ab.
Uli ließ sich nicht einladen, aber betrunken machen schon. Sie gingen die Krankengeschichte von Hermanns Schwester durch, um des Tiefsinns willen, imitierten Gesten von Stammgästen, um gemeinsam zu lachen, erlaubten sich ein Geplauder über die Viktorianischen Ausschweifungen , um nicht prüde zu wirken, und schließlich skizzierte Marleen, wie absichtslos, die Tage in Mailand, ihre einsamen Spaziergänge durch die abendliche Stadt. Das stimmte Uli weich. Er hatte sein Fahrrad dabei, so dass es sich anbot, in der Sommernacht einen Blick in die Einliegerwohnung zu werfen, um die Mühen des Umzugs abzuschätzen, obwohl Marleens Hausstand nicht gewachsen war und insofern jede Logistik überflüssig. Zum Glück hatte Cristina am Deckenfluter den Dimmer entdeckt, so ein Pseudomond am Himmel der Souterrainwohnung kam gerade recht. Marleen überlegte, wann sie den Vorhang schließen sollte – sogleich war zu deutlich und später passte es vielleicht nicht –, aber dann war es ihr egal. Sie nahmUli die Brille ab und strich über sein Gesicht, und sie fielen auf die indische Tagesdecke von grauroter Feierlichkeit mit bronzenen Ornamenten. Marleen achtete darauf, dass sie, als es so weit war, falsch herum zu liegen kamen, mit dem Kopf am Fußende, so als wäre sie weniger sie selbst und eher die Schwester, und sie freute sich an dem Bild, das sie sich, als schaute sie von der Decke herab, vorstellte: der schüchterne Hohenloher, halb blind, bis auf die Tennissocken nackt, die mörderische Versteifung des Junggesellen zwischen den Popacken des Mädchens. Armer Junge, er brauchte wirklich den helfenden Handgriff, knurrend wie ein Hund, dem man seinen Knochen nehmen will. Sie schloss den Vorhang erst, als Uli aus der Tür war, um Mitternacht.
Bleich von der Blutung, und zufrieden ob deren Pünktlichkeit, lud Marleen am Mittwochabend den dunkelblauen Koffer des Vaters auf das Fahrrad und wechselte in die Altstadt, wo sie für den Rest der Woche, ohne in die Wirtschaft zurückzukehren, 1984 zu Ende las. Hermann schenkte ihr das Fahrrad. Bei dieser Gelegenheit erst wurde erwähnt, dass sich Uli und Hermann eine Wohnung teilten, ein Umstand, der Marleen mehr als recht war. So schien der Montagabend einer Ausnahme geschuldet, Null ouvert der Gefühle, eine Wiederholung schwerlich einzufädeln und sowieso dringend zu vermeiden.
So wie »Marle« eintauchte in die Routinen von Lieferung und Verwaltung, Satz und Druck, hätte man meinen können, sie gehöre zu Volpes Druckerei wie alle anderen auch. Der Buchhalter verkniff es sich nicht, ihr zu stecken, ein Besucher habe in ihr die »Juniorchefin« erblickt. So dachte sie nicht mehr viel an Kassel; sie verbot sich, eine Kränkung zu verspüren, als sie ihr zweites Monatsgehalt als Praktikantin bekam. Sie konnte sich zwar kaum vorstellen, dass Volpe sie einstellen würde – als was? –, aber dass ihre Zeit in Nördlingen endete (das Geklapper der Presse, wenn der letzte Druckbogen durchgelaufen war, bevor sie abgestellt wurde),
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