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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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ein winziges »m« in einem schwarzen Feld. Auch er, den Weingart Franziskus nannte, hatte sich an die Rockwell gehalten, die Empfehlung des Lehrers. Die Serifen am »m« waren kurioserweise nicht symmetrisch, so dass der Buchstabe wirkte, als bewegte er sich vorwärts, eine Raupe. »Es gibt, glaube ich, keine andere Schrift, deren m-Minuskel in der Größe eines Fingernagels etwas hermacht«, sagte Franziskus.
    »Warum ist es denn so klein?«, fragte Marleen. »Und weiß auf schwarz?« (»Wie es ja nicht die Aufgabe war«, hätte sie fast ergänzt.)
    »Hauptsache, es haut hin«, sagte jemand, der Klaus hieß und einen schwarzen Zopf trug. »Was ist schon klein?«, parierte ein blasses Mädchen mit einem höhnischen Zug um den Mund, das selbst keinen Entwurf vorgelegt hatte.
    »Für gewöhnlich«, setzte Weingart an – er sprach mit einem trockenen, rollenden »r«, sehr langsam, hie und da setzte er eine Kunstpause –, »liegt einem gültigen Entwurf die richtige Fragestellung zugrunde. Also?« Mit den Händen gab er Franziskus und Marleen gleichzeitig das Wort.
    Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen, der schwieg.
    Marleen: »Ich habe meinen Buchstaben hochkopiert, bis er … bis er … so groß war, dass man ihn leicht ausschneiden kann.«
    Lacher bei den Skeptikern.
    »Ich habe ihn geschwärzt, weil Fotokopien kein gutes Schwarz haben. Dann ausgeschnitten mit dem Messer. Den Rahmen habe ich erst gezeichnet, nachdem seine Größe genau feststand. Um auszuprobieren, habe ich vier schwarze Balken benutzt, die ich wie mit einem Zoom größer oder kleiner gestellt habe. Ich meine geschoben.«
    »Jetzt steht ein sehr schwerer Buchstabe in einem quadratischen Feld. Fast berührt er die Außenlinien. Der Abstand ist gering, aber lebendig, nahezu elektrisch«, hielt Weingart fest.
    »Der Buchstabe sollte voll sichtbar sein, mehr war doch nicht gesagt worden«, kam es von Klaus.
    »Ja, das ist richtig. Aber unser Fenster ist nun einmal ein Quadrat. Lässt man das kleine ›e‹ der Rockwell auf zwei Seiten den Rahmen berühren, wird man es auf den beiden anderen Seiten beschneiden müssen.«
    »Verstehe ich nicht«, sagte das blasse Mädchen, nun weniger feindlich.
    »Das ›e‹ ist in der Tat eine Spur höher als breit«, erklärte Weingart. »Liegt es rechts und links an, würde man es in der Höhe beschneiden müssen. Das sieht man auch an Fräulein…«
    »Marleen.«
    »Marleens Lösung.«
    »Beim ›m‹ ist es noch drastischer«, sagte Franziskus, »weil es breiter läuft. Zieht man es im Quadrat so groß, dass es links und rechts anstößt, bleibt oben und unten ein weißes Feld, zu viel Weiß, und das ist immer schwach, es sieht einfach nicht stabil genug aus. Deshalb habe ich die Frage umgekehrt: Wie klein kann ein Buchstabe in einer Fläche stehen, ohne…«
    »… dass er seine Form verliert«; das war Marleen. Inzwischen hatte Weingart die beiden Buchstaben vertauscht, so dass »me« entstand, mit dem insektenhaften »m« und dem »e« dahinter wie ein Monument.
    »Sehen Sie? Das ist schon fast ein Logo. Bleiben Sie dran«, sagte Weingart, bevor er die Aufgabe der kommenden Woche vorstellte, die Präsentation desselben Buchstabens, »aber dieses Mal umgekehrt, der Buchstabe ist größer als sein Quadrat, Beschnitt also unvermeidlich. Man muss ihn aber auf jeden Fall noch lesen können.«
    Nachts saß Marleen wieder an ihrem Küchentisch, vor sich das »m« und das »e«, die sie beide mit Tusche und Feder auf eine unbebilderte Postkarte kopierte, was aussah wie ein Muster avantgardistischer Kacheln. Auf der Vorderseite notierte sie:
    »Liebe Mama, erst drei Wochen hier und mir dröhnt der Kopf. Macht aber Spaß. Das e ist von mir, das m ist von Franz. Den kennst Du nicht (aber ich eigentlich auch nicht). Viel tolles Gequassel in Kassel. Deine Marleen«
    Es hat etwas von einem Zirkus, bei dem man nicht weiß, ob das Pony im Kreis läuft, weil die Leute zusehen, oder weil es eben seine Art ist. Es mag ein Beruf sein, die Zeltkuppel auf einem Seil zu durchschreiten, einen Stab in den Händen,solange es aussieht wie reine Passion. Wer die Regeln lernt, ist verloren. Wer sie nicht lernt, ist ein Narr.
    »Für dich«, sagt Franz und meint Marleen, »ist der Buchstabe konkreter als seine Verwendung. Ein Spiel, nicht wahr? Aber vergiss nicht, die Bibel ist voller ›e‹s, Tausenden davon. Ist es nicht viel konkreter, die Bibel zu lesen, als einen Buchstaben zu zerlegen?«
    Mit dieser Anschauung ist Franz

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