Nichts Weißes: Roman (German Edition)
dem kleinen Fenster, nachdem die Signora sie allein gelassen hat. Marleen ist erleichtert. Das Zimmer kostet 32000 Lire, so steht es auf die Innenseite der Tür geschrieben, das kannsie selbst bezahlen, dreißig Mark sind das oder jedenfalls nicht viel mehr.
Eine Stunde später sind sie unterwegs auf dem kostbaren Pflaster in Richtung Innenstadt, die Bars und Geschäfte am frühen Abend gut beleuchtet, was in den Straßenschluchten ein Licht erzeugt, das sich mit jedem Schritt aufs Neue mischt wie ein flatternder Vorhang, dieser zerlöchert von den Scheinwerfern der Autos, die regelmäßig wie ein Leuchtturm über die ziselierten Fassaden, die Marmorpoller, die Waden der Passanten streifen.
Es waren zehn oder zwölf Minuten in die Via Manzoni, und diesen Weg flanierten der Verleger Volpe und die Praktikantin Schuller zweimal am Tag, um halb zehn am Morgen und um drei am Nachmittag. Im Grand Hotel ging Volpe, während Marleen so tat, als interessierte sie sich für Stuckdecken, zuerst an die Rezeption, wo er Benachrichtigungen und eingegangene Faksimiles mit 10000-Lire-Scheinen belohnte. Das brachte ihm die Behandlung eines Gastes ein; auch wenn er im Salon saß, wurde er ans Telefon gerufen. Volpe erklärte nichts, aber sie konnte es sich ausrechnen: Nicht mehr als fünf mal 10000 Lire am Tag, über zweieinhalb Tage, das ergab keine halbe Nacht im Grand Hotel, aber verhalf zu einer glamourösen Businessadresse. Das Wetter war gut genug, man brauchte keinen Mantel, keinen Schirm, und sie erschienen immer eine Viertelstunde vor dem ersten Termin der jeweiligen Tageshälfte, so dass der eine oder andere Geschäftsfreund glauben musste, Volpe und Marleen residierten in der Via Manzoni 29, obwohl Volpe das nie, auch nicht implizit, zum Ausdruck brachte. Es sah einfach so aus. Sie belegten einen Tisch fast in der Mitte des üppig dekorierten Saals mit gefiltertem Oberlicht, und Marleen gewöhnte sich schnell an den Reigen von Leckereien, die gebracht wurden, begleitet von frisch gepressten Säften, tiefbraunemEspresso in winzigen, dickwandigen Tassen, Mineralwasser, das verführerischerweise Pellegrino hieß; schließlich eine Flasche Est! Est! Est!, die Volpe immer um sechs bestellte, oder um viertel nach, aber nicht später, und sich ohne jeglichen Kontrollverlust bis halb acht einverleibte, abzüglich dessen, was die Geschäftspartner davon nahmen. Marleen lehnte ab; ihre Arbeit, falls es eine war, lag darin, sich nichts anmerken zu lassen. Cristina, dachte sie, würde das leichter fallen, weil Cristina überhaupt gern unter Menschen war, ohne etwas darstellen zu müssen, und weil Cristina nicht an andere Dinge dachte, die einen ablenken und dann, im entscheidenden Augenblick, dumm aussehen lassen. Wenn Volpe sie fragte, ob noch ein Exemplar der Historischen Fragmente vorhanden sei, während sie gerade überlegte, ob der Schriftzug von Illy, eine Pinselschrift, schwächer sei als der gebäudeartige von Lavazza; sie fand ja, durchaus, aber so ein kurzes Wort in der gleichen Blockschrift würde erst recht nicht gut aussehen. Sie untersagte sich die Grübelei, musste nachfragen, zog Volpes offen stehenden Pilotenkoffer hervor und stapelte die Bücher auf dem freien Nebentisch, fand das Buch von Jacob Burckhardt, gab es Volpe, räumte den Rest wieder ein und schob den Koffer halb unter den Tisch zurück, offen, und fast auf den Zentimeter dorthin, wo er zuvor gestanden hatte. Volpe reichte das Buch weiter an Signora Feltrinelli und erklärte ihr, die zur Verwunderung Marleens akzentfrei deutsch sprach, dies sei die erste kritische und kommentierte Ausgabe der hundertfünfzig Notizen des großen Historikers, eine konzise Chronologie des Abendlands. Marleen versuchte sich mit einem Hinweis auf die altertümliche Ausstattung des Buchs, aber Volpe winkte ab, und als die Feltrinelli gegangen war, Diamant und Seide, fixierte er sie väterlich und sagte: »Wenn wir dieses Buch in den italienischen Vertrieb bringen wollten, hätten Sie recht. Es geht aber nur um Lizenzen. Geistiges,wenn Sie so wollen.« Sie nickte, aber nicht zu heftig, und hoffte, nicht zu erröten.
Zwei Nächte waren genug, um Mailand zu einem Traum in Technicolor auszuspinnen, die Reifen glitten wie Zungen übers Straßenpflaster, die Bartresen glichen Terminals, Toiletten wie Marienschreine, Hemden in Fenstern und Fenster in Hemden. Als hätte man alle Städte in eine gezwängt: das klapprige Paris, das rissige Prag, das feierliche Kopenhagen und
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