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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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Lieder in Stereo. Als Volpe den Wagen vor Augsburg auf die Autobahn steuert, hat Marleen sich dran gewöhnt, obwohl sie weiß, dass es eingeflüstert ist, eingeflüstert von Geld, Technologie, Tradition: dass man das verdient habe. Dass man es wert sei. Dass man, wenn man diese Mittel hat, noch ganz anders könnte. Volpe weiß, welche Sprache sein Auto spricht. Er selbst schweigt in Wohlgefallen. Er gönnt sich ein bisschen Träumerei bis jenseits von Rosenheim, die Bergzüge links und rechts wie Opernkulissen.
    Ein kleiner Mann, der Volpe, den Sitz hat er nach vorn gefahren, um die Pedale zu erreichen, den mechanischen Gurt locker übers Bäuchlein gelegt, der Kopf ruhend im cognacgelben Leder der Stütze, so dass der Schnurrbart zuerst in die Landschaft schaut, die Silberbrille wie Zierat auf dem Nasenrücken, wo sie einen Abdruck hinterlässt. Mit der Linken wirft er ein Bündel Scheine in den Korb der Mautstelle. Während die Anlage das Geld einzieht, zählt und schließlich die Schranke freigibt, wendet er sich zu Marleen:
    »Kaffee?«
    Ohne die Brille ist er ein anderer Mann. Für einen Moment wackelt die Altersbarriere: er der nervöse Junge, sie die abgeklärte Lady, wer kann mit wem Pferde stehlen.
    Der Bartresen aus weißem Marmor, eingefasst in Edelstahl, zum Drauflehnen, was Volpe tut, ein Routinier. Sie, mit einem Bärtchen vom Macchiato, beobachtet die Barhalle im Spiegel, das ungleiche Paar, das sie sind. Sieben- oder achtmal findet sie die Schrift, von der Miniatur auf der Tasse über die Reservepackungen im Regal bis zur Emailleplakette über dem Tresen und seitenverkehrt im Fenster: LAVAZZA, in Rot. Schon jetzt hat sich die Reise gelohnt. Volpe sieht ihr zu, wie sie das Milchbärtchen mit dem Handrücken ausradiert.
    Der Verkehr wird dichter mit der Westwendung bei Verona, der Himmel unruhig, mal silbern, dann nahezu violett. Die Autobahn verdoppelt und verdreifacht sich, aufgerollt wie eine Schlange, die Autos verdaut wie Nager, den Rover schließlich wieder ausspeit auf die Magistrale, riesige, von Ruß und Rost angefressene Wohnanlagen, auf die Dächer getürmte Reklameschriften, Ampeln, die zwinkern, Moment mal, und da hat Volpe nicht aufgepasst, der weiße Fiat hinter ihm kreischt wie ein Ganter.
    Das Verwaschene lässt nach, die Glanzlichter nehmen zu, woran Marleen die Annäherung an die Innenstadt erkennt. Kein Wort hat Volpe verloren über die Unterbringung, und Marleen hat nicht gefragt. Schon schwenkt das englische Auto ein in eine Toreinfahrt; die Hofanlage macht aus dem Brummen des Motors den Lärm einer Fabrik. Als sie aussteigen, erscheint über ihnen der kristalline Himmel des frühen Abends als Quadrat, und doch nicht ganz, denn ein Viertel des Gebäudeblocks ist als Rundung gebaut.
    »Finden Sie auch«, ruft Marleen über das Autodach hinweg, »dass ›runde Ecke‹ ein total blödes Wort ist?«
    Volpe nimmt seinen Pilotenkoffer und geht vorweg, auf einen Hintereingang in der runden Ecke zu, läutet bei Casa Stefano; schon der Flur hat Deckenstuck wie die Blüte einer Margerite, die Form wiederholt in den Bodenintarsien, die Glaslampe da oben wie Vollmond. Volpe kennt das alles. Am Paternoster lässt er die erste Kabine vorbeifahren, nickt Marleen zu, und die nächste nehmen sie beide im Sprung, sie dachte, dieses Beförderungsmittel wäre ausgestorben. Er strahlt und betrachtet sie von oben bis unten, als wären sie sich soeben erst begegnet, dann wendet er sich zum Ausstieg,
    »Wellet mr?«,
    und schon stehen sie im hohen, gewölbten, aber trüb beleuchteten Gang einer Pension, Holzdoppeltüren links und rechts. Die Signora empfängt beide herzlich, aber einzeln und nicht als Paar, und nimmt Marleen nach einem Italopalaver mit Volpe wieder in den Paternoster. Marleen zögert und steht dann zehn Sekunden allein mit Koffer in der Kabine drunter, im fünften Stock reicht ihr die Signora zum Aussteigen die Hand. Dann geht es eine Stiege hoch, entlang der Förderanlage des Paternosters, die hinter der Treppenverkleidung rumpelt, bis unter das Dach des Gebäudes, wo die Signora ein schmales Dienstmädchenzimmer aufschließt, Linoleum und schmiedeeisernes Bett, wie Marleen erkennt, als die Signora am anderen Ende des Zimmers den hölzernen Rollladen aufstößt. Von der Dachgaube aus hat Marleen den vollen Ausblick auf die Kreuzung Via Turati und Via Moscova, der Straßenbelag braun-rötliche Quader, Straßenbahnschienen, Autos, Roller, Passanten – eine Viertelstunde lang steht sie an

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