Nichts Weißes: Roman (German Edition)
anfing, erwies sich in der ersten Woche als schwierig, in der zweiten fiel es leicht, in der dritten wieder schwer. Bei jedem Seminar musste man achtgeben, den Anfang nicht zu verpassen. Der Filmvertretungsprof kam an einem Donnerstag morgens um neun, es gab Gerangel um »die Liste« (wie kam man auf die Liste?), am Freitagabend packte er um zehn seine Anekdoten aus, um elf seinen Koffer, dann war er für drei Wochen verschwunden, bis zum November. Der kommt ja auch extra aus Los Angeles, hieß es.
»Aus Hollywood, um in Kassel Kurzfilm zu unterrichten?«
»Wieso nich’?«
Marleen zögerte, sich für Grafikdesign einzuschreiben, sie dachte, die machten da Verpackungen für Medikamente. Dann merkte sie, dass alle hingingen, Hagen Kluess war Kult, der sprach mit hundert Studenten wie ein Arbeiterführer. Im großen Seminarraum hingen noch Plakate, vom letzten Semester, dachte Marleen, bis sie merkte, dass diese für die erste Sitzung von Assistenten aufgehängt worden waren, ein Stachel im Fleische der Anfänger, die zweierlei dachten, Das schaff ich nie und Das kann ich auch.
»Das Mobiliar müssen sie nicht übernehmen, morgen ist Sperrmüllabfuhr«, hatte der Vermieter gesagt, ein gütigerHerr, der im Haus nebenan wohnte, das ihm ebenfalls gehörte. Statt ihre Möbel herauszustellen, hatte sie den Vorabend genutzt und den Wohlstand der Nachbarschaft studiert, die es offensichtlich darauf anlegte, auch das Letzte abzustoßen, das den Krieg überlebt hatte. Der Küchentisch mit Besteckschublade, die Fläche unscharf marmoriert, echtes oder falsches Linoleum, war der zweitbeste Fund gewesen. Sie hatte blaue Flecken an der Hüfte vom Schleppen, aber was für ein Triumph nach dem Putzen. Das Beste hatte sie schon am Nachmittag entdeckt, vom Fahrrad aus: sechs schwarze Lampen, die aus der Werkstatt eines Fotografen auf die Straße geschafft wurden. Sie bat die Witwe und ihren Sohn, die Lampen wieder reinzuräumen. Daraufhin wurde ihr das Atelier gezeigt – Nein danke, die größeren Geräte könne sie nicht brauchen. Später kam sie noch zweimal zurück, auf dem Gepäckträger ein Karton, und man half ihr sogar beim Packen. Als hätte ganz Kassel sich verabredet, um Marleen willkommen zu heißen; eine Stadt, deren freundliches Lächeln die zweifelhafte Perfektion dritter Zähne blicken ließ, ein Biss ohne Nerven. Niemals würde sie hier zu Hause sein.
Und so, im geschenkten Provisorium, richtete sie sich ein. Eine der Fotolampen löste sie von ihrem Stativ und hängte sie pendelnd in der grünen Küche auf. Schob sie den Tisch direkt darunter, entstand ein Kreis, das war gut zum Essen. Zog sie den Tisch zu sich heran, bekam sie Licht von links oben, so dass ihre rechte Hand keinen Schatten warf. Sie machte es sich zum Prinzip, Essen und Arbeiten zu trennen, nicht einmal der Salzstreuer durfte stehenbleiben, als es an den ersten Entwurf ging. Die Aufgabe beim Typografen Tomas Weingart war, einen Buchstaben in einer quadratischen Fläche darzustellen. Bei der Verlosung hatte sie das »e« gezogen, im Schriftmusterbuch die Rockwell gefunden, diese hochkopiert, und nun bewegte sie einen schwarzen Rahmen, bestehend ausvier Balken, als Quadrat auf den Buchstaben – den sie mit Tinte nachgezogen hatte – zu oder davon weg, so dass der Buchstabe einmal als Riese erschien und dann als Miniatur. Neunzehn von zwanzig Varianten schienen nichts zu bedeuten, nichts auszudrücken, sie würde Weingart fragen, wie das sein konnte.
Das allerdings, zeigte sich am Dienstag, bot sich nicht an, wäre missverstanden worden als Kommentar zu den Entwürfen der anderen, von denen keiner wirklich »stand«, wie Weingart es ausdrückte; ihrer war die Ausnahme. Marleens »e« hatte er in der Mitte eines großen Tisches platziert, ohne irgendetwas dazu zu sagen. Er hielt »p« und »c« und »y« rechts und links daneben, als wollte er ein Wort bilden, gab aber dann »p« und »c« und »y« zurück, während das »e« liegenblieb. Weingart fragte jeden nach seiner Arbeitsweise, wobei herauskam, dass alle zuerst den Rahmen festgelegt und dann versucht hatten, den Buchstaben einzupassen. Manche hatten zu eigenwillige Schriften gewählt, Gothic und Wildwest. Soeben sollte Marleen erläutern, wie sie zu ihrem »e« gekommen war, als ein kühler Hauch vom Flur hereinblies und jemand die Tür hinter sich schloss, das war der Junge mit der Wallfahrt. Dieser murmelte eine Entschuldigung in Richtung Weingart und legte seinen Entwurf auf den Tisch,
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