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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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probierte es bei Müller. Bennie, so anders als Esme, war konkret bis zur Kantigkeit, die Haut glänzend, die Brille fettig, die dünnen Haare rötlich. Beide konnten es wirklich, abmessen, zuschneiden, den Stoff durch die Maschine jagen. Bei Bennie aber musste man warten, sie nähte nur ein Kleid zur Zeit, während Esme von zwölf bis vier Maß nahm und dann loslegte, bis in die Nacht. Das schürte die Eifersucht von Jörg und Axel, die sich mit Esme in jenen frühen Apriltagen abwechselten; sie am liebsten miteinander geteilt hätten, aber so weit war es noch nicht.
    Im Hausflur stand aufrecht ein gewaltiger Ballen billigsten Stoffs, der ein unruhiges Schwarz-Weiß-Muster zeigte, kein Glencheck, kein Zebra, kein Pepita, irgendetwas der vierten Art, das, wenn anprobiert von Dorit, Brit, Susanne, Esther, sie alle verwandelte in Kaufhausflittchen, Allerweltsmädchen, Weiber von der Stange. Als der erste Ballen zu Ende ging, wurde ein zweiter angeliefert. Nach vier Tagen beschloss Bennie, das nächste Kleid wäre ihr eigenes und dann Schluss. Esme hängte noch einen Tag dran, Glück für Marleen, die spät mitbekommen hatte, dass es in diesem Semester keinen Plakatkurs gab, stattdessen »Das Kleid«, und so bekam sie auch noch eins. Esme musste für Marleen die Zimmertür schließen, als sie Maß nahm. »Ach ja«, sagte Esme, deren Deutschnicht mehr holperte, sondern floss, »du bist auch katholisch. Im Herzen.«
    Hagen Kluess pflegte aus seinem Porsche zu steigen wie ein Gott aus der Maschine. Er war sofort gegenwärtig, überall zugleich wie ein Duft, auf den Fluren, unter den Arkaden, im fotografischen Atelier, im Seminarraum eins und zwei. Er multiplizierte sich, ein Jünger links, ein Jünger rechts, dann ein Schüler links vom linken Jünger und eine Schülerin rechts vom rechten. Sah man eine schwarze Wolke kommen, war das Hagen Kluess. Wo eben noch der Professor Hof gehalten hatte, blieb ein Stellvertreter zurück, der sprach wie Kluess und dachte wie Kluess. Es war immer von Kluess die Rede oder von Hagen, und wenn er dann wirklich kam, von Montag bis Mittwoch, brummte das Gebäude, ein unablässiger Ruf nach etwas Neuem, ein ständiger, forscher Aufbruch, der alles mit sich riss. Tomas Weingart, gewappnet durch sein Schweizer Temperament, blieb davon unberührt.
    Einst war Peter H. Kluess ein bleicher Student gewesen, mit einer starken Nase, das Kinn fliehend im Vergleich. Der hatte nicht selbstbewusst ausgesehen, aber war es; das Flüchtlingskind, das lange braucht, um sich aus dem mütterlichen Kokon zu lösen, dann aber steht es unerschütterlich. Sein Gesicht war nun verlängert um eine gewaltige kahle Stirn, diese begrenzt durch einen scharfen Haaransatz im Zenit des Schädels, sein dunkles Haar nach hinten gekämmt. Den Mund, für das schmale Gesicht etwas kräftig geraten, hatte er durch einen gelegentlich von Hand gestutzten Vollbart gerahmt, die Unterlippe gestützt von einem lichtlosen Dreieck. Mit seinen flatternden Hemdkragen – in die Breite getrieben durch ein orientalisches Halstuch –, und in Jeans, Jacke wie Hose, sah er wie der Star einer Rockoper aus.
    Im Jahr zuvor hatte er einen Ruf aus Berlin erhalten. Er hatte mit der Universität Kassel neu verhandelt und war geblieben. Jetzt bespielte er eine ganze Folge von Räumen und ein Beratungszimmer als Refugium. Dieses war belagert von jungen Männern, die berechtigt waren, alle Fragen zu beantworten, sofern sie nicht das ästhetische Urteil betrafen. Eigentlich war es eher ein Atelier, in das eine halbe Etage als Empore eingezogen war: Dort oben pflegte sich der Professor auf dem Sofa auszuruhen, und so war es manchmal nicht ganz klar, ob man mit den Assistenten oder HiWis allein war oder nicht. Die doppelte Höhe des Ateliers bot eine gewaltige Aussicht ins Freie, die Bäumchen noch kahl, die Blätter darunter als gelb-schwarzer Teppich, und Kluess war nicht zu sehen, als Marleen vorsprach, um sich für das Semesterprojekt einzuschreiben. Aus den Roth-Händle zweier lederbejackter Jungen, die sich gegenübersaßen, stiegen blaue Rauchsäulen auf. Sie musterten Marleen von oben bis unten und grinsten einander an, sie ließen sie ihren Namen eintragen, eine Zeile war noch frei, und gaben ihr die »Lektüreliste«. Die war monströs.
    »Musste lesen. Hagen besteht drauf«, sagte etwas zu leise und schneidend der Schmale mit den dunklen Augen.
    »Ach Quatsch«, krächzte der dickliche Blonde. »Was für Hagen zählt, ist der Entwurf.

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