Nichts Weißes: Roman (German Edition)
ersten Teil des Buchs. Mindestens eins steht auf den letzten hundert Seiten.«
Diese Empfehlung überraschte Marleen: »Machst du das in Göttingen auch so?«
»Das kommt drauf an. Jedes Buch ist anders. Die Phänomenologie des Geistes zum Beispiel hat ein Vorwort, das sind fünfzig Seiten. Bei vielen Büchern kann man das Vorwort überschlagen, da ist es aber andersherum, man muss es Wort für Wort durchackern. Es zeigt die Methode Schritt für Schritt.«
Den Vermieter ließ Marleen wissen, dass ihr Lebensgefährte bei ihr eingezogen sei, eine bombastische Formulierung, wenn auch die rechtstaugliche. »Na, dann haben sich ja zwei gefunden«, kam zurück. Als sie ihm zu zweit begegneten, war sie vorsichtiger:
»Das ist Franziskus Orth.«
»Ach, der Lebensgefährte.« Sie biss sich auf die Lippen.
Franz hatte die Wirkung von Stroboskoplicht. In seinen Augen bekam alles diese metallische Unvermeidbarkeit. Über den Illustrationsprofessor, von dem Marleen enttäuscht war, sagte er, »Das ist die Langzeitwirkung von Alkolhol. Das macht läppisch.« Tomas Weingart kommentierte er, »Ja, der hält sein Geheimnis zurück.« Selbst Hagen Kluess war für ihn ein lösbares Rätsel: »Der hält euch auf Trapp, damit ihr nicht zum Denken kommt.« So fiel die Furcht der Novizin ab von Marleen; gerade an den Tagen, an denen Franz nicht da war, fühlte sie sich stark, als hätte sie eine unsichtbare Armee hinter sich.
Die Karlsaue zeigte sich als gewaltiges Naturtheater, schwergrün. Die Abende wurden länger und länger. Marleen begann, wenn sie allein war, weite Wege zu laufen, durch die Karlsaue bis an den Stadtrand, ganz um den Bugasee und bisin die Stadt zurück; dann mit der Straßenbahn bergauf nach Wehlheiden. Sie streunte umher auf den Anliegergrundstücken der Vereine an der Fulda, die nicht gesichert waren, und sah den Ruderern zu. Auf einer ihrer Juniwanderungen fand sie den Baum.
Es waren eigentlich zwei gewaltige Stämme, zwillingshaft miteinander verwachsen. In die Außenseite des glatteren Stamms waren Zeichen mit Taschenmessern eingeritzt, Herzen und Initiale. Am folgenden Abend kam sie wieder, mit dem Kleid, dem aus der Hochschule geliehenen Stativ, ihrer Nikkormat mit dem Zoom 35 bis 70 Millimeter und in der schwarzen Kamera Tri-X Pan für 36 Belichtungen. Die Baumstämme glänzten matt, das Gestrüpp dahinter wie Schamhaar. Ja, sie stand vor einem naturgewachsenen Monument des Eros, einer Doppelerektion, von Einsamen und Liebenden aufgesucht und gezeichnet; in der Tat war die Mulde zwischen den Stämmen eine perfekte Stütze, um es im Stehen zu treiben. Sie nahm das Monument in verschiedenen Ansichten auf, noch unschlüssig, was es hergeben würde.
»Superaffengeile Bildidee, und du bist der King«,
aber wieso eigentlich der King? Als Frau? Und während sie noch grübelte, erkannte sie in den Messergraffiti eine Raute, eine Salmiform, senkrecht geteilt und mittig mit einem Kreis versehen. Ihr schwante, dass dies die Vorstellung eines Zwölfjährigen von einer Muschi war, und dokumentierte das Ding, mit einer Andeutung der benachbarten Schnitzereien, den Herzen, den Initialen, frontal und scharf. Im späten Tageslicht sahen die Graffiti nicht aus wie geschnitzt, sondern wie mit Filzstift auf Papyrus gekrakelt. Während das Licht weiter nachließ, starrte sie aus einiger Entfernung wieder das Monument an und erblickte darin plötzlich zwei in den Himmel ragende Beine, eine nackte Riesin, kopfüber im Erdreich begraben. Sie drapierte das schwarz-weiße Kleid in der Mulde. DieSchwärzen zeigten schon keine Struktur mehr im Restlicht, so dass die weißen Zackenformen umso deutlicher hervortraten. Sie dachte, diese Riesin trägt am Unterleib einen … wie hieß das noch mal, so einen glitzernden Minislip, wie Tänzerinnen in Männerlokalen. Das rahmte sie im Sucher ihrer Nikon, belichtete vom Stativ mit einer Sekunde aus halber Distanz, die Kindergraffiti frontal mitgenommen als Bild-im-Bild, die Scham der Riesin als zentrales Motiv, vom Kleid entflammt, dessen Muster bis an den unteren Bildrand züngelte. Um Mitternacht, in ihrer Küche, hielt sie den nassen Filmstreifen gegen das Licht.
Wie von Mama getuscht, dachte Marleen.
Anders als den meisten Studenten – den Söhnen und Töchtern von Lehrern, Handelsvertretern, Apothekerinnen – war Marleen die Gestaltung, inzwischen Visuelle Kommunikation genannt, nichts Neues, so dass sie nicht jenen Schub bekam von Stolz und Ambition, der die jüngeren
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