Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Semester antrieb und sie zu allen möglichen Irrtümern verleitete, sich selbst betreffend, die anderen, die Lehrenden und die Lehre. Sie wollte verstehen, wie Schriften gemacht wurden, nicht nur einzelne Buchstaben, sondern komplette Systeme, und die Kasseler Frage bestand für sie einzig darin, wie viel Tomas Weingart darüber wusste. Sie musste den Tresor erst öffnen können, um zu erfahren, ob etwas drin war. Merkwürdig, wie wenig die anderen sich dafür interessierten. In Hagen Kluess’ Atelier hingen prämierte Plakatentwürfe von Sechstsemestlern in Schwarz-Weiß, die Schrift immer die Futura , entweder im Bleisatz zusammengestümpert oder vom professionellen Satzbetrieb geordert. Die beherrschten noch nicht einmal den Fotosatz – Dilettanten!
Nicht weniger merkwürdig als die Grafik bei Kluess war die Fotografie bei Leveke. Da war das Fotografieren verboten. Die Aufgaben bestanden ausschließlich darin, im Labormit Licht auf Fotopapier zu zeichnen, was zu allerhand archaischen Stillleben führte, Kämme, Linsen, Gabeln, Hände. »Fangt klein an, es kann immer noch größer werden«, war die Maxime des Fotoprofessors Leveke, der »Korrekturen« nur zweimal im Semester vornahm, und dessen eigene Glanzleistungen Laborbelichtungen in Körpergröße waren, nächtlich wirkende Choreografien, für Studenten schon aus Kostengründen unerreichbar. Eine studentische Hilfskraft von Hagen Kluess hatte den Schattenriss seiner Erektion eingereicht und rückseitig »Fangt klein an …« betitelt, was die Feindschaft der Professoren, schon vorher von beiden Seiten aufs Eitelste gepflegt, noch vertiefte. Vor allem männliche Studenten schlugen sich leidenschaftlich auf Kluess’ oder auf Levekes Seite, beflügelt durch Anekdoten über Bosheiten, mit denen der eine den anderen überzogen hatte. Die Studentinnen waren bei weitem vorsichtiger; eine kleine Gruppe, zu der auch Marleen eine Weile gehörte, besuchte – wenn auch nicht ganz unbeschwert – beide der sich befehdenden »Klassen«. Auf diese Weise konnte man weder in der einen noch in der anderen Welt etwas werden, studentische Hilfskraft, Wortführer, bester Kumpel oder der mit dem Abonnement auf den »ganz klar besten Entwurf«. Allerdings war Leveke drauf und dran, seine Assistentin zu heiraten; schon bald würde Hagen Kluess ihm in nichts nachstehen wollen und eine Studentin zur Frau nehmen, die seinen 911 würde fahren dürfen, jedenfalls für die Zeit des Führerscheinentzugs. Leveke fuhr kein Auto und trank auch nicht.
Noch lief Marleen im Tempo des Kollektivs, aber sie begann sich zu fürchten vor dem Sommer. Franz, da gab es keinen Zweifel, führte zwei Leben zugleich, oder drei, und hielt sie getrennt wie der Chemiker seine Säuren. Seine charmante Art, anwesend zu sein, ahnte Marleen, war der Perfektion der Auslassung geschuldet. Die Zukunft, das war der blinde Fleck.
Im Juli kam Franz pünktlich zur Präsentation des »Kleids«. Da waren sie, Kumpel und Spitzel, Liebende und Zerstrittene, Schmidts und einsame Wölfe. Es war zu warm im großen Seminarraum, die Tische aufgestellt zu einem großen Hufeisen. Alle hatten ihre schwarz-weißen Fotos ausgepackt und so gelegt, dass Hagen Kluess, der auf der Innenseite des Hufeisens seinen Rundgang machen würde, sie sehen konnte. Einige standen, weil sie keinen Platz gefunden, oder weil ihre Arbeiten nicht fertig geworden waren, im Hintergrund. Marleen saß neben Franz. Sie hatte die beiden Baumbilder vergrößert, die große Ansicht und das Detail; Franz hatte ein DIN-A4-Blatt vor sich. Darauf stand, mit Schreibmaschine ins weiße Papier gehauen:
Anleitung für Performance, Juni 1987
30 Studentinnen der Visuellen Kommunikation »im Kleid« stürmen die Pressevorbesichtigung der documenta 8, »besichtigen« das Fridericianum. Nach 15 Minuten sind sie urplötzlich verschwunden.
Franziskus Maria Orth, Kassel, im Juli 1985
Der schwarze Pulk erschien, die Lieblingsstudenten, Hilfskräfte und Assistenten, und mit ihnen, etwas übernächtigt, Hagen Kluess. Er trug den Jeansanzug und neue, spitze Stiefel, die ihn größer machten, obwohl er nicht klein war. Ohne Vorrede oder Begrüßung begann er seinen Rundgang, während der Pulk am offenen Ende des Hufeisens zurückblieb. Der Professor beugte sich über die Arbeiten, kommentierte sie mit dröhnender Stimme. Er fand eine Idee »frisch, aber noch nicht wirklich elegant ausgeführt«, eine Bildserie »naheliegend, vom Licht her aber magisch«. Nur einmal, bis zur
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