Nichts Weißes: Roman (German Edition)
traurig war, dass sie deshalb den Hof betrachten musste. Sonst hatte sie immer ihr Fahrrad abgestellt, mit der einfachen Hinterradblockade gesichert und war weitergelaufen in den Gemeindesaal, den sie sich jedesmal vorgestellt hatte, mit seinen Holzstühlen und seinem Geruch, bevor sie eingetreten war.
Marleen dachte eine Weile nach, obwohl sie nicht genau wusste, worüber. Sie hatte sich mit dem rechten Ellbogen auf den Fahrradsattel gestemmt, was zum Nachdenken besser passte als gerade zu stehen. Nur so viel war klar, sie würde über kürzer oder länger entscheiden müssen, ob sie hineingehen würde oder nicht. Nicht, dass die anderen Kinder schon wieder herauskämen, während sie hier noch stand. Dann müsste sie sagen, sie hätte sich in der Uhrzeit geirrt. Im Vergleich dazu war es leichter, jetzt hineinzugehen und sich beim Kaplan Valentin für die Verspätung zu entschuldigen. Missmutig beschloss Marleen schließlich, die Katechesezeit ein einziges Mal auszulassen, dieses Mal, und die verbleibende Zeit in der Neusser Innenstadt zu verbringen. Ist ja schließlich nicht verboten, dachte sie.
»Nicht verboten!«, rief sie laut, als der Gemeindesaal außer Hörweite war. Ein Mann mit Hut schaute die kleine Radfahrerin verwundert an und sein Dackel ebenfalls. Marleen dachte, was sie nie zuvor gedacht hatte, dass es besser wäre, woanders zu sein. In Köln vielleicht oder in Paris. Sie hatte in einer Bildstrecke geblättert, die ein griechisches Inseldorf zeigte, alle Häuser weiß unter tiefblauem Himmel. Den Bericht dazu hatte sie allerdings nicht gelesen, so dass sie nicht sicher war, ob das weiße Dorf für sie das Richtige wäre. Sie las überhaupt nicht sehr viel, nicht wie Johanna, nicht einmal ein Bruchteil davon. Immer hakte sie irgendwie fest; manche Worte verwechselte sie mit anderen. Am Vortag war sie zu einem Test bestellt worden. Möglicherweise habe sie eine Leseschwäche, hieß es. Sie fand nicht, dass man das erst testen musste, sie hätte es denen gleich gesagt. Aber es waren keine Lehrer, sondern Psychologen, und die hatten sogar ein Wort dafür. Sie war eine »Legali…«, eine »Leganstisch…«, sie hatte sich das nicht gemerkt. Noch stand es nicht fest. Nächste Woche würde man es wissen. Haha.
Das wichtige Wort aus Gruiten aber hatte sie parat.
»Haben Sie ein Buch über das Moderne?«, fragte sie in der Stadtbücherei.
Der Mann bündelte einen Stapel Karteikarten mit einem Gummiband, legte ihn beiseite, nahm seine Brille ab und sah sie an. Marleen schaute durch ihre Eulenbrille zurück. Ihre Haut hatte das Glühen des Spätsommers. Mit einem leichten S-Schwung stand sie da, fliederfarbener Nicki, Levi’s, ein Buch in der linken Hand, das unschwer als Katechismus zu erkennen war.
»Setz dich«, sagte der Bibliothekar. Sie setzte sich auf die vordere Kante eines hölzernen Freischwingers. Den Katechismus legte sie hinter sich.
»Es gibt sicher nicht nur ein Buch über die Moderne.«
»Kann man die ausleihen?«
»Das meiste kann man ausleihen. Was willst du genau wissen?«
Marleen starrte ihn an.
»Interessiert dich moderne Architektur? Modernes Theater? Moderne Malerei?«
»Nicht das Theater«, sagte Marleen. Sie verschaffte sich etwas mehr Platz auf dem Stuhl. Dabei fiel der Katechismus hinten runter.
»Hast du denn Zeit?«, fragte der Mann.
Das hatte sie noch nie jemand gefragt. Kein Erwachsener, jedenfalls.
»Bis sechs«, sagte Marleen.
»Dann schließen wir sowieso. Das reicht für einen Überblick. Den Katechismus kannst du auf meinen Schreibtisch legen. Ich zeige dir erst mal das Schlagwortregister.«
Am Freitagmorgen kam sie auf die Sekunde neben Ingolf zu sitzen, was ihn aber nicht davon abbringen konnte zu zischeln:
»Wo bist du gewesen gestern?«
»In der Bücherei.«
»Der Bücherei?«
Sie nickte, während die Klassenlehrerin einen Guten Morgen wünschte und ein Brummeln, Quietschen und Stöhnen zur Antwort bekam. Der Junge sah Marleen mit riesigen Augen an, immer wieder. Zur Pause duckte sie sich weg. Den Rest des Vormittags tat er, als wenn nichts wäre. Als sie mit dem Fahrrad einbog in die Pomona, stand er da vor dem Haus des Architekten, der sich vor die Siedlung gesetzt hatte wie ein Pförtner. Um die Bremszüge seines Rads hatte Ingolf blau-weiße Schmuckverkleidung gewickelt. Er streichelte sich durchs Haar, das er wieder hatte wachsen lassen. Sie hielt an, weil sie wusste, vorbeizufahren hätte geheißen, seine Freundschaft zu verlieren, vielleicht
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