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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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rauchte eine Zigarette, die einzige verbliebene am Tag, Camel Filter. Marlboro, hatte Brad Kilip herausgefunden, rauchten Leute, die sich Ziele steckten, und Camel jene, die sie schon erreicht hatten. Sie blies den Rauch durch die türhohe Öffnung ins Atrium. Es war kurz vor Mittag, Linus noch nicht aus der Schule zurück; noch nicht einmal sechs Jahre alt, hatte er darauf bestanden, allein zu gehen. Der Lärm blieb. Der Lärm, gegen den sie sich mit dem Erdwall hatten schützen wollen, war über die Jahre offenbar um ein Mehrfaches angewachsen, lauter als die Luft selbst, wie Lore dachte. Sie horchte eine Weile, ob er nachlassen würde, aber er lag über der Pomona wie eine Glocke.
    So hätte sie fast das metallische Däng-dong nicht gehört. Sie eilte zur Sprechanlage, es war nicht Linus, es war der Kaplan Valentin, ob sie einen Moment Zeit hätte, und auf dem Weg zur Tür dachte sie: Diese verklemmten Kirchenheinis – Oh Gott, der kommt jetzt wegen Marleen – Ich werde nicht sagen, dass ich konvertiert bin – Petrus müsste sich dem stellen – Vielleicht hat Johanna den geschickt, Quatsch, die ist doch in Dreikönigen – Oder ich beichte, ob er will oder nicht, »wissen Sie, ich habe da so gewisse Phantasien, die mich verfolgen …« – Dann wird er schon wieder abziehen.
    Der Kaplan reichte ihr jovial die Hand. Man kenne sich schon seit dem Beginn von Marleens Katechesezeit, aber Lore konnte ihn nicht zusammenbringen mit einem Mann in schwarzer Kutte, dem sie einmal flüchtig die Hand gereicht hatte. Sie sagte, sie sei Marleens Mutter, obwohl das nicht weiter fraglich war. Er strebte auf eine Weise ins offene Haus, dass man meinen mochte, die Tasse Kaffee am Esszimmertisch, vielleicht sogar Wohnzimmertisch mit Kaffeesahne und Zucker wäre ihm sicher, aber Lore leitete den fremden Mannin ihr Atelier, wo das Fenster noch offen stand. Der Geruch der kalten Zigarette kam aus dem Ricard-Aschenbecher, der auf dem Hocker abgestellt war. Sie bugsierte den Ascher auf den Boden, deckte ihn mit einem kleinen Zeichenblock ab und schob dem Kaplan den Hocker hin, der ihn mit klösterlicher Bescheidenheit annahm. Selbst setzte sie sich auf ihren drehbaren Arbeitsstuhl, der lustig aussah, wenn man dafür ein Auge hatte, mit seinen Armlehnen, die nach vorne hin anstiegen, als wollten sie Hallo winken. Auf dem Tisch lagen Serienentwürfe eines Männleins mit zu großem Kopf in schwarzer Tusche; Lore illustrierte jetzt Kinderbücher.
    Der Kaplan hatte einen frischen Teint, braune Augen und mittelblonde Haare, die er hinten kurz trug und vorn lang genug, um sie sich gelegentlich aus der Stirn zu wischen. Lore glaubte, er sei jünger als sie selbst, zumal sein Gesicht, etwas gepolstert, kaum Zeichen des Alters zeigte. Er kenne mittlerweile viele Kinder aus der Pomona, bemerkte er, aber sei noch nie in der Siedlung gewesen, was gleich zu Marleen – der Abtrünnigen, wie Lore dachte – hätte führen können. Stattdessen machte er eine Pause. Und schon erzählte ihm Lore von dem Lärm, dessen Unablässigkeit ihr eben erst aufgefallen war, und von der Bauzeit, Johannas Sturz in die Grube und dem siegreichen Kampf um den Lärmschutzwall, dessen Vergeblichkeit sie nun einsah.
    Er hatte sich vorgebeugt und die Ellbogen auf die Knie gestemmt, den Kopf in die Hände gestützt, die er zu einer Schale geformt hielt. Erst jetzt bemerkte Lore, dass er keine Amtskleidung trug, sondern schwarze Cordhosen und eine karierte Jacke, weiß gefüttert, und Schuhe, die eher zum Country- und Westerngenre gehörten.
    »Ach …«, sagte er etwas gedankenverloren. Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Das würde ich nicht ins Metaphysische heben.«
    »Ins Metaphysische?«
    »Den Lärm, meine ich. Sehen Sie, es mag ja etwas laut sein, aber wenn es den Wall nicht gäbe, dann wäre es viel lauter. Insofern würde ich auch jetzt noch sagen, dass der Feldzug gelohnt hat.«
    »Wissen Sie, was ich manchmal gedacht habe … Dass wir die Sache gewonnen haben, hat zu unserer Abkehr von der Politik geführt. Der lokalen, meine ich. Hätte die Stadt uns länger warten lassen, säßen wir heute vielleicht im Gemeinderat.«
    »Das würde ihm guttun.«
    Für einen Moment dachte Lore, er meine Petrus.
    »Wem?«
    »Dem Rat der Stadt.« Sie lachten, aber nicht laut.
    Während er nun wieder gerade saß und die Arme ausfliegen ließ, betonend und deutend, lenkte er das Thema unversehens auf das, was er seine kleine politische Schulung nannte, die Begegnung mit Theologen in

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