Nichts Weißes: Roman (German Edition)
für immer. Sie kannte die Schwierigkeit, jemandem in die Augen zu sehen, wenn man etwas nicht sagen will, dieses blöde Grinsen, hündisch, obwohl Hunde nicht wirklich grinsen. Dabei wusste sie noch nicht einmal, was es war, das sie nicht sagen wollte.
»Der Kaplan Valentin hat gefragt, was mit dir is.«
»Hat dich gefragt?«
»Hat mich gefragt.«
»Und …?«
»Ich habe gesagt, dass ich mich kümmere. Wir wollen unseres Bruders Hüter sein.«
»Ich weiß. Aber Mädchen zählen nicht.«
»Bruder oder Schwester, wir sind alle Kinder Gottes.«
»Du wirst Messdiener, und ich darf nicht.«
»Woher hast du das. Aus der Bücherei?«
Sie sah Ingolf an. Sie nahm die Brille ab, um sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Auge zu wischen. Das kam vom scharfen Wind der niederrheinischen Ebene. Da tränen die Augen manchmal.
»Indschie …«, nur sie durfte ihn so nennen. »Ich hab’s mir überlegt.«
Was sie selbst überraschte, denn sie hatte überhaupt nicht überlegt.
»Wir sollen das Blut Christi teilen«, hauchte Ingolf.
Lore, die mit der Ente vorbeifuhr, tat so, als würde sie das Paar nicht sehen. »Liebesdrama mit neun«, dachte sie. »Schöner Scheiß.«
»Ich hab mir’s überlegt«, sagte Marleen.
»Und wat?« Man hörte noch, dass er nicht aus dem Rheinland kam.
»Ich komm nicht mehr. Ich will keine heilige Kommunion.«
»Biste jeck?«
Das Bild, das sie jetzt abgab, hätte Marien alle Ehre gemacht. Die Tränen und dieses Lächeln, beides zugleich.
»Vielleicht bin ich jeck«, sagte sie. »Kann schon sein.«
Petrus, unterdessen, war nach der Stippvisite in Gruiten wieder in Amerika unterwegs und flog dann von Los Angeles nach Sydney, nochmals nach Hongkong und wieder nach Delhi, das alles, um seinen Aufgaben gerecht zu werden, einerseits Brad Kilip in der Welt bekannt zu machen und andererseits Oberholtzer von »Inspirationen« zu berichten, wozu alles gehörte, was in Düsseldorf fremd war, exotische Drucktechniken, Nachrichtenwege, Artefakte und Riten. In Los Angeles hatte er den Grateful Gerd dabei, in Sydney die junge Art-Directorin aus der Baracke; »Indien kannste machen«, hatte Oberholtzer beschieden, aber »dat wird erst mal kleine Münze bleiben, da kannste sischer sein«. Es konnte durchaus sein, dass es Petrus nicht nach Delhi und Goa trieb, um Brad Kilip bekannt zu machen, sondern weil er dort jene Leute wiedertraf, die er, ganz für sich, den »Jet-set des Abseitigen« nannte, durchgebrannte Manager aus New York, müde Filmleute aus der Cinecittà, schwülstige Popmagnaten aus London und jede Menge einzelreisender Frauen, die unbedingt nicht mehr Norwegerinnen oder Australierinnen sein wollten, Inderinnen aber auch nicht. Von ihnen gedachte Petrus etwas zu lernen, das Verharren im Genuss, die Liebe zum Augenblick, er würde die Worte dafür schon finden. Vor allem erwartete er mit einer gewissen Erregung das Wiedersehen mit dem Team vom stern in einer Stadt namens Poona, die er noch nicht kannte, die aber mehr Freaks zog als alle anderen zusammen, »ungeheure spirituelle Kräfte«, hatte der Redaktionsfotograf gesagt. Die Verbindung zu den Journalisten war es, die Petrus das Gefühl verschaffte, auf einer höheren Ebene der Erfahrungskunde angekommen zu sein, ohne den Makel des Reklamefritzen, aufgenommen von den Cogniscenti, eine Plattform, von der aus zweierlei möglich war, entweder die Werbung zu verlassen oder sie zu veredeln. Auf jeden Fall war Indien die Pforte zum Neuen, und dass er nicht wusste, was das Neue war, machte ihm keine Angst oder nur ein bisschen. Es tat ihm gut mit 41 Jahren, nachdem fast alles, was hatte gelingen können, gelungen war.
Lore, im August und September Empfängerin zweier handgeschriebener Briefe, las darin nicht das, was sie später darin lesen sollte. Sie wunderte sich zunächst über die Verwandlung ihres Reklamegigolos in einen Sinnsucher, eine Verwandlung, die umso rätselhafter war, als sie in ihrer unmittelbaren Nähe stattgefunden haben musste.
Es war plötzlich noch einmal warm geworden. Das Atelierfenster war so weit es möglich war geöffnet, das eine große Glas über das andere geschoben, und Lore sah auf das Atrium hinaus, mit seinem in die Jahre gekommenen Sandkasten und dem veralgten Teich, an dem sich der Reiher schon lange nicht mehr gezeigt hatte. Plötzlich wurde sie des Lärms gewahr, ein Rauschen an der Schwelle zum Dröhnen, ein unterirdischerWasserfall oder ein Flugzeug über dem Haus. Es ließ nicht nach. Sie
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