Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Südamerika, die sich gegen gewalttätige Regime stellten, Priester zu jener Zeit interniert, gefoltert, plötzlich unauffindbar in Argentinien.
Dabei sei es ja nie die Absicht der Kirche, die staatliche Obrigkeit zu ersetzen, zumal sie, die Kirche, ohnehin ein Paralleluniversum darstelle.
»Es geht nur darum, die alten Fehler gutzumachen.« Er strahlte von innen heraus, ohne zu lächeln. »In Mexiko hat die Kirche die Leute dumm gehalten, absichtlich, die Eingeborenen von jeder Bildung, von jeder Partizipation abgeschnitten, und das über mehr als ein Jahrhundert. Ich war in Peru, aber nicht für die Kirche.«
»Sondern?«
»Als Arzt.«
»Können Sie da nicht mehr helfen als … als …«
»Das dachte ich eben auch! Und ich habe meinen Teil getan, zwei Jahre lang. Aber es waren die Priester, die den Leuten die Brücke gebaut haben in ein anderes Leben. Nicht umsonst nennt man das ja die Theologie der Befreiung.«
»Dann sind Sie umgeschwenkt?«
»Milde ausgedrückt, ja. Es gab dort auch einige Ärzte-Priester, deren Weisheit und Voraussicht mir großen Eindruck gemacht haben. Dann bin ich erst einmal zurück nach Deutschland, um meine Kirche kennenzulernen. Mit der ich eigentlich nichts zu tun gehabt hatte, bis dahin.«
Der Kaplan Richard Valentin war bei Breslau als Sohn eines mittelständischen Tuchfabrikanten zur Welt gekommen. Zu seinen ersten Erinnerungen gehörten brennende Dörfer und Städte. Die Mutter, verwitwet, flüchtete mit dem Kleinkind nach Holstein und zog später, als man sich frei bewegen durfte, nach Fulda, wo sie ein Kurzwarengeschäft betrieb, »ihre Tapferkeit vergoldet durch Lastenausgleich«. Lore schätzte seine Geburt auf 1941 oder zwei Jahre früher. So viel jünger als sie wäre er nicht.
»Ich habe alles normal durchlaufen, Taufe, Kommunion, Firmung, aber ich wollte, ja was wollte ich. Ich wollte wohl in weißen Sachen auf dem Tennisplatz stehen, mit dem Mercedes-Cabrio vor der Tür.«
Lore zögerte einen Moment.
»Vor welcher Tür?«, fragte sie in dem Moment, als jemand schellte.
Sie lachten. Sie bat den Kaplan sitzen zu bleiben. Als sie wieder im Atelier erschien, brachte sie Cola und Bahlsenkekse und zwei Gläser, alles auf einem Tablett, das vor dem erstaunten Kaplan plötzlich Beine bekam und dann als Teetisch zwischen ihnen stand. Linus, der früh Schulschluss hatte, schaute herein, grüßte nicht und machte kehrt.
»Wer ist das?«
»Linus.«
»Wie bei den Peanuts ?«
»Sie kennen die Peanuts ?«
Es stellte sich heraus, dass der Kaplan nicht nur die Peanuts kannte. Er kannte auch Kalle Blomquist, das Sams, die kleine Hexe und Die Legende vom Schwarzen Mann , die Lore illustriert hatte. »Das spielt zwar in der Katechesezeit selbst keine Rolle, aber in den Kindergruppen nach der Erstkommunion durchaus.«
Womit er bei Marleen angekommen war.
Lore sah ihn ernst und schweigend an. Sie schaute in das Fach der richtigen Worte, und es war leer.
»Was glauben Sie«, fragte er, »hat Marleen dazu bewogen, die Katechesezeit zu unterbrechen?«
»Das hat sie Ihnen nicht gesagt?«
»Sie war ganz kurz in meinem Büro. Als würde sie eine Presseerklärung verlesen. Das klang so: ›Wenn ich zur Erstkommunion gehe, nützt mir das gar nichts, dann kann ich trotzdem nicht Mini werden.‹«
»Na ja, so etwas Ähnliches hat sie hier auch gesagt.«
»Und haben Sie nicht … Ich meine, das ist doch überraschend, finden Sie nicht? Ein Mädchen möchte offensichtlich Messdiener werden. Bis zu dem Zeitpunkt hat sie … hat es darüber aber nichts gesagt. Marleen zieht eine Verbindung von der Eucharistie zu dieser Frage, obwohl doch der Sinn der heiligen Kommunion niemals darin liegen kann, Ämter auf sich zu ziehen.«
Lore sah ihm zu, wie er sprach, und fragte sich, ob er stehend größer war als sie selbst. Da hatte sie, als er kam, nicht drauf geachtet. Andererseits, was ging es sie an.
»Sie orientiert sich da wohl an ihrem Freund.«
»Ihrem Freund!«, rief der Kaplan, den Ausdruck von Überraschung schon bedauernd.
»Ihrem Schulfreund, Ingolf. Der seine Kirchenkarriere biszur Firmung schon geplant hat. Da fühlt sie sich, wenn ich das recht verstehe, zurückgesetzt.«
»Wissen Sie«, sprach er leise, wobei seine Stimme dabei an Timbre gewann, »die Kirche ist zweitausend Jahre alt. Sie ist dennoch im Wandel. Erst seit wenigen Jahren sprechen wir wirklich mit unseren Gemeindegliedern, also in der Sprache ihres Landes. Vorher war es Latein. Es wird noch viel passieren.
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