Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Küche und machte sich, anders als an anderen Tagen, zu Fuß auf den Weg. Es war weit nach Montparnasse. Schlierenhimmel, vage gelbliche Lichter, von beweglichen Blenden verschlossen zu grau. Ein Herbstwind wie eine unsichtbare Wand, die gegen die Laufrichtung schiebt. Sie hatte sich angewöhnt, stolz zu gehen, Bauch und Brust raus, Schultern grade, lässig und flott ausschreitend. Über die Brücke, die Seine ein quecksilbernes Band, durch das dröhnende Saint Germain, mit Pauken und Trompeten nach Montparnasse. Aber sie nahm kaum etwas wahr von der Stadt. Vor ihren Augen standen sämtliche Zeichen der Tempi Novi , als wären es Teile eines gigantischen Mobiles, das sie durchschritt. Sie war angekommen im Labyrinth der reinen Form. Man musste wiederum das Lesen verlernen und nur die Buchstaben fixieren. Kratzte man den Sinn weg, erschien die reine Gestalt. Wendelin brachte vom Labor die belichtete Computerschrift, das Positiv. Er ließ das Blatt auf ihren Arbeitstisch wehen wie eine Feder. Marleen aber sah nicht, wie sie hätte sollen, die Schrift. Sondern sie las: Hamburgerfonts .
Wendelin sah, wie sie gefror: »Das hätte ich dir gleich sagen können, dass man ein Schriftmuster am Computer nicht errechnen kann.« Er stand noch eine Weile neben ihr, aber sie rührte sich überhaupt nicht mehr. In der Tat hatte Marleen Wendelin vergessen. Sie war mit ihren Gedanken in Hamburg, und da hing sie fest.
Es war schon Nachmittag, und Marleen flüchtete aus dem Atelier, sobald sie konnte. Am Abend musste Pierre nur fragen, wie es ihr ging, und sie sackte dort, wo sie gerade stand, zusammen. Er schleifte sie halb, halb trug er sie zum Sofa. Sie weinte, erst ganz still und später lauter, während Pierre sie unbefangen zuerst im Haar und an der Schulter streichelte, dann drückte, aufrichtete; Ann sah es von der Küche aus. Das war Pierres Stunde. Etwas im katholischen Urgrund, möglicherweise, Beichte, Segnung, Trost.
Der Rest der Woche war eiserne Routine. Marleen zeichnete zwanzig Zentimeter große Buchstaben auf eine Schriftlinie und dachte an nichts anderes mehr. Sie machte sich Schablonen, Doppel, Varianten. Sie vergrößerte den Computerausdruck dreifach am Kopierer und dekorierte damit die ganze Wand ihrer Nische. Sie würde den Hamburgerfonts anstarren, bis er nichts anderes mehr wäre als das, was er sein sollte, ein Beispiel. Sie würde eine Buchstabenmönchin werden, Konvent Passeraub, Paris.
Am Freitagnachmittag zeigte sie Passeraub die Entwürfe. Er nahm einige Korrekturen in den Bleistiftzeichnungen vor.
»Ja, so ist es richtig. Aber braucht es das?«
Marleen zögerte. Das hatte er, glaubte sie, schon einmal gefragt. Aber was hatte sie geantwortet? Sie schaute unwillkürlich auf das Kaufhaus gegenüber. Aber es brannte nicht. Sie sagte:
»Nicht unbedingt.«
»Eben«, sagte Passeraub. »Vollenden Sie es auf jeden Fall.«
Marleen sah ihn ungläubig an.
»Wissen Sie, die jungen Leute, Neu York, das Marketing, die machen einen einfach verrückt.«
Team Hamburg
Vier Personen in einem Raum, italienisches Mobiliar, Parkett dunkel und glatt. Zwei Männer von hinten gesehen, zwei von vorn, alle sitzen. Zwischen denen, deren Gesichter zu sehen sind, steht ein milchiges, randloses Gegenlicht, das von einem Fenster herrühren muss. Der Teetisch in der Mitte des Quartetts hat zwei große Speichenräder auf der einen Seite und einen Griff auf der anderen, die Karikatur eines bäuerlichen Vehikels. Von den zweien, die man erkennen kann, ist einer bärtig, ergraut, mit einem Krakelee im Bereich von Nase und Stirn: Weisheit und Amusement. Der andere ist blond und schmal, mit einem energischen Mund, der im Vergleich mit seiner beginnenden Kahlheit umso ungewöhnlicher wirkt. Er trägt eine randlose Brille. Der Kahle ist sehr viel jünger als der mit dem Bart. Es liegt eine gewisse Spannung in dem schwarzweißen Foto dieser Viererrunde.
Auf der Doppelseite, es ist ein Interview, ist dieses Bild oben links platziert. Ein weiteres, kleines Foto ist auf der rechten Seite in den Text eingelassen. Es zeigt grau und verschwommen einen Mann beim Meditieren oder jedenfalls am Boden sitzend in einem einfachen Kostüm, um den Hals eine Kette mit dem Portrait eines Mannes, der ihm ähnelt, langhaarig und bärtig. Die Bildunterschrift verknüpft beide Fotos, die hochglänzend gedruckt sind, über die Doppelseite hinweg: »Schuller, van Turnhout: Wer sagt, dass es nicht möglich ist, Werbung … / … als immateriell zu
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