Nichts Weißes: Roman (German Edition)
würde ich Ihnen immer raten, jetzt über das zu berichten, was morgen Geschichte ist.
Zum Beispiel Sie.
Schuller: Hoffentlich.
Van Turnhout: Wer jetzt Anfang sechzig ist, sollte in Frührente gehen. Denn es steht eine große Aufgabe bevor, allen, und zwar die Öffnung Osteuropas.
Die Sie sich wie vorstellen?
Van Turnhout: Als Ende des sowjetischen Imperiums in kommunistischer Gestalt. Das jedenfalls vermuten die Auguren der Efeu-Liga-Universitäten.
Was bedeutet das für Sie als Werber?
Van Turnhout: Eine riesige Herausforderung. Denn wir werden es mit Millionen von Menschen zu tun haben, die mit Waren eine sehr begrenzte und mit Marken fast gar keine Erfahrung haben. Sie sind vollgestopft mit »Antikapitalismus« und »Antifaschismus« – falsche Zwillinge –, und es wird mindestens eine Generation dauern, diese Blase, dieses Vakuum aufzulösen. Sie werden sich auf die Waren stürzen, aber die Marken dafür hassen, daß sie welche sind.
Dann sollte man, der zukünftig neuen Klientel entgegenkommend, die Marken vielleicht eher schwächen als stärken?
Schuller: Marken sorgen für Orientierung, sie sind wie Wegzeichen. Sie erkennen eine Stadt selten an ihrem Bild, viel eher an dem Schild, das am Stadtrand aufgestellt ist. Ich stimme da mit Boris van Turnhout vollkommen überein: Marken werden Teil der politischen Landschaft sein. Wie bedeutsam sie wirklich sind, wird man erst erkennen, wenn der Kalte Krieg endet.
Sie arbeiten am Ende des Kalten Kriegs?
Schuller: Ja. In Düsseldorf haben wir ihn, ohne es recht zuwissen, durchaus geführt. Wir haben uns eingeigelt in unserer Idee des Westens, die auf – die teils auf – Verdrängung gebaut ist. Darum bin ich nach Deutschland zurückgekehrt, weil ich erkannt habe, daß es Aufgabe der Werbung sein wird, den Kalten Krieg zu beenden. Die Branche würde ihn lieber fortführen, fürchte ich.
Coca-Cola in Moskau?
Van Turnhout: Volkswagen in China.
Rolls-Royce in Ihrer Garage?
Schuller: Unwichtig.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Flokati
Kein Kind hat eine Vorstellung von seiner eigenen Zukunft, weshalb die Frage »Was willst du denn mal werden?« so lustige Antworten hervorbringt. Kinder sind gebettet in Wünsche, wobei sie nicht unterscheiden zwischen den erfüllbaren und den unerfüllbaren. Eher zwischen geheimen und mitteilbaren. Kein Wort hat Marleen verlieren wollen über ihre Sendung, die darin besteht, die Welt mit einer Schrift zu beglücken, einer Schrift, die nicht stolz aussehen würde oder schwer, nicht zackig und schon gar nicht wie Schreibschrift; einmal aber hat sie sich verraten, als Ingo in Gruiten war.
Ein Sommerabend, jener warme Hauch von Freundschaft, der bereits Kinder zu Liebenden macht: Ingolf – mit den Fransenshorts und seinem Wattebausch von Haar – vertraute ihr an, herabblickend in den stillgelegten Kalksteinbruch, dass er später einmal auf der Bühne stehen würde, als Sänger, und Marleen glaubte das sofort. Sie antwortete ihm, sie selbst wolle nichts weniger als angesehen werden, angestarrt. Viel lieber würde sie etwas erfinden, das überall in Gebrauch wäre, ohne dass irgendjemand darüber nachdächte.
»Wie der Kühlschrank«, riet Ingo.
»Nein.«
»Wie das Telefon.«
»Nein.«
»Wie eine Zigarette.«
»Ja, ein bisschen wie eine Zigarette.«
Sie würde, flüsterte sie, und sie glaube, dass ihr das gelingen werde, eine Druckschrift schaffen, die so normal sei, dass sich niemand jemals fragen würde, woher sie stamme. Ganz locker und einfach. Wie Schreibmaschinenschrift vielleicht,aber nicht so persönlich. Ingolf sprang auf das Motiv unsichtbarer Ehre nicht an. Stattdessen fragte er:
»Wäre das dann so, dass auch du die lesen kannst?«, und obwohl er gleich danach versuchte, es auszubügeln, war dennoch nichts mehr zu ändern daran, dass er, der nicht einmal ein Instrument spielte, zu ihr gesagt hatte, sie könne nicht lesen. Was nicht ganz falsch war. Er hatte es schließlich als ihr Banknachbar zuerst bemerkt. Dort noch, am Steinbruch, beschloss Marleen, die Sache bis zu ihrer Realisierung für sich zu behalten, möglicherweise für immer.
Früh war Marleen sich bewusst, dass ihre Eltern die ganze Republik bespielten. Mama kritzelte Figuren, die dann Prospekte und Bücher bevölkerten, und Papa machte zwar nichts selbst, nicht wirklich, aber er buchte Anzeigen in Illustrierten, und wenn er das nicht täte, sagte er, würden die eingehen wie Primeln. Vielleicht könnte man die Eltern da noch
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