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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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weiße Lieferwagen …«
    Franz: »Kein Lieferwagen! Es gibt noch überhaupt keine Autos!«
    »Ach«, staunte Marleen. »Keine Autos! Briefkästen?«
    »Ja.«
    »Mülleimer?«
    »Nein.«
    »Telefonzellen?«
    »Nein.«
    Nachdem sie gründlich versucht hatten, sich eine Stadt reiner Baukörper vorzustellen, waren die bewegten Objektedran. Lieferwagen ohne Beschriftung, Taxis ohne Taxizeichen, Busse ohne Werbung.
    »Ziemlich trist«, sagte Marleen.
    »Nicht weit von Irrenhaus«, sagte Franz. Sie lachten.
    Sie holten sich Thunfischbaguettes, die sie auf der Straße aßen.
    »Jetzt umgekehrt«, schlug Franz vor.
    »Umgekehrt wie?«
    »Es gibt nur die Beschriftung. Alles andere ist unsichtbar.«
    Marleen blieb stehen; eine Olive rollte ihr davon, der eine Taube nachjagte.
    Es dauerte eine Weile, bis das Bild erschien, die Stadt gläsern, die Beschriftungen schwebend, frontal und in ihren Fluchten, still und in Bewegung.
    »Und Menschen?«, fragte Marleen.
    »Keine Menschen«, sagte Franz.
    »Kein Geräusch, stimmt’s?«
    »Absolute Ruhe.«
    So standen sie da und sahen, was sonst niemand sah. Später blickten sie sich in die Augen; Franz ließ einen Finger über ihre Stirn laufen, die Nase herunter und über den Mund. Manche Passanten drehten den Kopf nach ihnen um.
    Sie liegen auf dem Eisenbett im Mädchenzimmer, das Plumeau über ihre nackten Leiber gezogen, und gucken zur Decke auf, die gruselige Fissuren zeigt. An der Wand hängt eine Zeichnung, die zwei Studien eines männlichen Gesichts zeigt. Franz hat kein Wort darüber verloren.
    »Beschreib mir das Alphabet!«, sagt er.
    »Wie das?«
    »Ich bin Japaner und habe noch nie ein lateinisches Alphabet gesehen.«
    »Das a ist eine Hohlform, aus deren hinterem Stamm …«
    »… rückwärtigem …«
    »… aus deren rückwärtigem Stamm ein Dach entsteht, das umgekehrt zur Schreibrichtung läuft.«
    »Was ist denn die Schreibrichtung?«
    »Von links nach rechts.«
    »B.«
    »Das b ist eine vertikal gestellte halbe Schleife. Wenn der Strich die Linie berührt …«
    »Was für eine Linie?«
    »Franz!«
    »Wir haben in Japan keine Linie!«
    »Die Linie trägt alle Buchstaben, so dass deren Unterseiten genau gleichauf liegen. Sie ist aber nur für den Gestalter da, im Buch ist sie nicht zu sehen.«
    »Okay.«
    »Der aufrechte Strich berührt die Linie. Die Ausbuchtung, der Bogen, reicht nur bis zu seiner halben Höhe und deutet in die Schreibrichtung. Das ist also nach rechts …«
    »Der Japaner ist nicht blöd!«
    Marleen gackert leise. »In der Handschrift sieht es etwas anders aus.«
    »C.«
    »Woher kann der Japaner denn unser Alphabet?«
    »Hat ihm mal jemand aufgesagt. Der Japaner merkt sich alles. Also Vorsicht!«
    »Das c wird auf halber Höhe begonnen. Man muss für die Breite eines Buchstabens Platz lassen, denn der Strich wird gegen die Leserichtung geführt.«
    »Platz lassen?«
    »Zum vorhergehenden Buchstaben!«
    »Ach so.«
    »… wird entgegen der Leserichtung nach links geführt, im Bogen nach unten, berührt die Linie und steigt dann wieder auf, aber wird nicht vollendet.«
    »Das kann ich mir vorstellen«, sagt Franz. »Das a ist eine hohle Nuss mit Sonnenschirm. Das b ist eine Geisha, die auf dem Rücken ihr Öfchen trägt. Das c ist der geöffnete Mund eine kleinen Kindes.«
    »Wie leicht das klingt«, sagt Marleen. »Und wie schwer es in Wirklichkeit ist.«

Schoß der Familie
    Das Wochenende hatte sie mit den Kindern verbracht. Marleen war Teil des Haushalts der Jaccottets geworden, eingeweiht in die Vorlieben von Katie und David, in die Rituale von Pierre und Ann. Bald bediente sie auch die Waschmaschine, darin ihre eigene Wäsche und die der Familie. Sie kannte die Besitzstände im Badezimmer, Anns Duftfläschchensammlung, die Pierre für überflüssig hielt, und Davids Badewannenente, die Katie nicht anfassen durfte. Gelegentlich bediente sie sich bei den Tampons aus dem Schränkchen im großen Bad.
    Kassel war ganz von ihr abgefallen, der Stundenplan, die Pfennigfuchserei, die Langeweile und die Einsamkeit. Paris war jeden Tag wie eine Reise, vom Dachversteck in die Brutkammer der Familie, von dort in die scheppernden Kolonnen der Pendler – das Atelier wie eine Lichtung im Wald. Immer machte sie zuerst eine Runde durch die Werkstatt und begrüßte Fränzi, oder wer schon da war und noch nicht in die Arbeit versunken. Sie wollte Alain in eine Programmiererfrage verwickeln, aber an diesem Tag war Monique um halb neun allein mit der Citronique,

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