Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Aviv verbrachte, um die Familie ihres Verlobten kennenzulernen, verbunden mit einer Wendung in ihrer Geschichte religiöser Passion. Marleen versuchte zu schlafen. Sie hatte das erste Mal das Gefühl, dass da etwas war. Weil sie dir das einreden, dachte sie. Sie machen den Fötus zum Kind, und das Kind, null Hirnbetrieb, nichts, zum liebreizenden Kleinen, damit du nicht tust, was du tun willst. Na ja, willst. Was du vorhast. Wo es dich hintreibt. Was deine Bestimmung ist. Bestimmung? Bin ich dabei, verrückt zu werden?
Sie hörte Stimmen. Unter sich und nebenan und von weiter weg. Man hört immer die Frauen, dachte Marleen, was ist mit den Frauen, dass sie es alle Welt wissen lassen müssen. Dieses Ah und Oh und Ja und Aua. Die lauteste war die jüngste, die Waldorfschulfreundin von Linus. Dann war da das Rufen von Cristina. Und in der Ferne, was über die Hofbegrenzung vom Atelier zurückkommt: Das ist Mama. Ich komme zu Weihnachten nach Hause, und das Haus ist ein Bordell. Sie hieltsich die Ohren zu, aber dadurch wurden die Schreie lauter. Um Himmels willen, sagen wir. Marleen, du bildest dir das ein.
Beim Frühstück stellte sich heraus, dass die Wohngemeinschaft dem Haus guttat. Linus, der sich einen »aufgeklärten Konservativen« nannte, wurde gefoppt von Cristinas Lover, der ihm sagte, dass er dann der erste wäre. Valli machte sich lustig über die katholische Kirche. Er sagte, sie betrachte ihn für immer als ihr Kind, er aber leugne die Vaterschaft. Dabei schaute er Marleen auf eine bestimmte Weise an. Der Schatten aus der Waldorfschule, Babs, war behende in der Küche und überhörte alles, was bösartig klang. Sie passte nicht zu Linus. Es geht wieder nur ums Poppen, dachte Marleen. Bei Tageslicht besehen, war sie noch nicht einmal dagegen. Zumal sie niemand mehr in die Kirche nötigte. Mama und Valli gingen zu einem protestantischen Gottesdienst, der schon um vier stattfand, weil es nur mit Kindern richtig voll wurde. Cristina nutzte die Gelegenheit, um sich mit ihrem Verehrer einzuschließen. Marleen lag auf dem uralten Flokati – so ein Drecksding! – vor dem Fernseher und wälzte ihr Unglück. Am zweiten Weihnachtsfeiertag nahm sie die S-Bahn nach Köln und von Köln den Zug nach Paris.
Dort wartete, auf der Kommode im Flur bei den Jaccottets, ein Brief von Franz. Marleens Herz raste, während sie zur Kammer hinauflief. Diese gestochene Schrift. Da stand nicht »Marleen …«, da stand »Liebe Marleen« und »Ganz Dein Franz«. Sie raufte sich die Haare. Sie weinte ein bisschen, bevor sie las, zur Vorbeugung.
»Liebe Marleen,
ich habe beschlossen, in den Dienst der Kirche einzutreten, und ein Gelübde der Keuschheit abgegeben. Schon vor Paris. Du, ich glaube es so sagen zu müssen, hast mich verführt. Das kannst Du. Ich habe mich gefragt (während das geschah),wozu es gut sein soll, weil alles, und sei es im letzten Winkel, sein Gutes hat.
Es ist nicht möglich, zu Dir zurückzukehren. Ganz im Gegenteil, ich werde Dich meiden müssen. Das Kind aber ist der Sache Sinn. Ich werde mich den väterlichen Pflichten, was Geld angeht, nicht entziehen. Mir ist völlig klar, was das alles für Dich bedeutet. Und ich würde Dich bitten, Dich nicht an mir zu rächen; in der naheliegenden Weise, meine ich. Es würde mir das Herz brechen. Ganz Dein Franz«
In der Küche traf sie Ann, die allein war. Marleen, verweint, versuchte nichts zu verbergen. Ann, anders als Pierre, berührte sie nicht. Sie saß ihr gegenüber und hörte zu.
»Ich höre dich«, sagte sie mehrmals, als sprächen sie über Funk miteinander.
Zum Silvestergottesdienst der deutschen lutherischen Kirche waren erschienen: die Jaccottets komplett, Passeraub mit den fast erwachsenen Töchtern, Furrer mit seiner äthiopischen Frau, Fränzi Lüthi mit ihrer Schwester. Die Predigt hielt Pastorin Passeraub. All das war neu für Marleen, die, am Ende ihrer Tränen, nahezu willenlos, zwischen David (mit Bärli) und Furrer (»mein Ex, übrigens«, flüsterte Ann ihr ins Ohr) in der zweiten Reihe saß. Man dankte Gott und pries ihn für seine weisen Entscheidungen. Einmal drehte sich Passeraub in der ersten Reihe um und sah Marleen lange an. Sie wusste, dass sie nie diesen Glauben teilen würde. Aber es war ein offenes Angebot. Sie würden sie nicht fallenlassen. Nicht mit Kind. Das war die Bedingung. Es war der Vorabend ihres dreiundzwanzigsten Geburtstags.
Tête
Marleen ging nicht mehr zu Fuß zur Arbeit und sie machte sich auch nicht mehr
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