Nichts Weißes: Roman (German Edition)
warum hast du mich verlassen.
An Weihnachten und zwischen den Jahren schloss das Atelier Passeraub, Furrer und Stüssi. Die Jaccottets boten ihr anzu bleiben, baten sie sogar darum, weil man doch gerade in diesen Tagen Kinderbetreuung brauchte (die Konzerte, die Gottesdienste, die Einladungen zum Jahreswechsel). Und in der Pomona war ohnehin nichts mehr wie früher. Trotzdem beschloss Marleen, nach Neuss zu fahren. Mit Cristina über alles sprechen. Vielleicht.
Es hat doch Nachteile, Sichtbeton weiß zu streichen. Es blättert. Die Pomona 133 sieht nicht mehr so aus wie vor zwanzig Jahren. Der Teich ist ausgetrocknet, die Gehwegplatten zeigen eigentümliche Neigungen. Eine Terrassenrolltür lässt sich nur noch unter Gefahr öffnen und schließen. Die Bewohner sind nicht mehr dieselben, drei Zimmer an englischsprechende Studenten der Verfahrenstechnik vermietet, wobei die beiden Schotten bereits in ihre Heimat gereist sind, als Marleen ankommt. Der häufigste Besucher ist Valli. So nennt Lore den Kaplan Valentin, der allerdings schon lange kein Priester mehr ist, sondern wieder Arzt, und zwar an den Städtischen Kliniken. Linus wirft ab und zu seine blonde Tolle aus dem Gesicht. Der dritte Student stammt aus Südafrika und fliegt für den Jahreswechsel nicht zurück. Er, der hochgeschossene Junge mit Zügen von Tintin, bewohnt das große Zimmer, das sich früher Marleen und Cristina geteilt haben. Mit ihm verbringt Cristina ihre Nächte. Diese Art des Daseins entspannt sie sehr.
Marleen wälzt das Telefonbuch und stellt fest, dass die Beratungsstellen so kurz vor Weihnachten geschlossen sind, mit Ausnahme der »Mütterberatung« in Krefeld. Sie leiht sich den Citroën, über den Rädern rostrote Gerinnsel, und sitzt um 10:32 Uhr, wie die Uhr an der Wand anzeigt, einer Schwester im Ordenskostüm gegenüber. Die heißt leider Johanna. Marleen weiß, dass sie dieses Gespräch hinter sich bringen kann, wie sie möchte: Sie braucht nur am Ende die Bescheinigung, dass es stattgefunden hat.
Schwester Johanna bedauert, dass »ein Kind« der heiligen Kirche verlorengegangen sei. Damit meint sie nicht den Fötus in Marleens Bauch, sondern Marleen selbst.
»Ich würde gern wissen, wer der Vater ist«, sagt die Schwester. Sie hält dabei einen Kugelschreiber in der Hand. Warme Augen hat sie.
»Ich weiß, wer der Vater ist«, sagt Marleen.
Die Schwester zögert. Sie vermeidet alles, was nach Konfrontation klingt.
»Darf ich fragen, ob er Katholik ist?«
»Oh ja, das ist er.«
Marleen ärgert sich über sich selbst. Was geht diese Frau das an?
»Dann kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich mit der Idee eines Aborts anfreunden wird.«
Sie sagt Abort statt Abtreibung. Auch wenn die Schwester die zweite Silbe betont, denkt Marleen dabei an ein Klo. Sie ist sich plötzlich nicht mehr sicher, was die Bescheinigung betrifft. Ist es so, dass nur die Beratung bescheinigt wird – man ist beraten worden, und damit ist dieser Schritt abgehakt –, oder ist es so, dass sie auf dem Plan der Abtreibung bestehen muss und dieses auf einem Formular angekreuzt wird? Sie muss, soweit es Gründe braucht, vorbringen, dass sie auf sich gestellt sei und in Paris, zurzeit, mit einem Kind nichts anfangen könne. Sie lässt den Kopf hängen und sagt gar nichts.
»Es wird heute jungen Müttern allerhand Hilfe angeboten«, sagt die Schwester. »Sowohl von staatlicher als auch von kirchlicher Seite.«
»Ich wohne als Deutsche in Paris. Niemals komme ich von dort aus an Kindergeld.«
»Das müsste man klären. Sie sind doch erst in der fünften Woche, wenn ich Sie richtig verstehe. Aber auch in der fünften Woche ist ein Kind im Mutterleib als solches zu erkennen. Und wenn das Kind bei Ihnen aufwächst, bedenken Sie das, wird es nicht danach fragen, ob Sie hier waren oder dort, ob Sie arm waren oder reich. Es wird einfach froh sein, unter Gottes Himmel wandeln zu dürfen.«
10 Uhr 55 auf der Uhr des Citroëns.
Das Auto schlägt auf die Straße, als sie es vom Bordstein rollen lässt. Die Fahrerin hat vergessen, die Hydraulik abzuwarten. Das holt sie jetzt nach, die Karosse zur Straße geneigt, langsam sich hebend. Schief und in der Luft. So ähnlich fühlt sich Marleen.
Sie hatte Johannas Zimmer bekommen, ganz früher Papas Arbeitszimmer, aber so nannte es keiner mehr. Ihr war, als schwebten gleich zwei Schwestern mit im Raum, die Schwester Johanna aus Krefeld und die leibliche Schwester Johanna, die das christliche Weihnachtsfest in Tel
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