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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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übertreffen.
    »Nein, nicht wie eine Zigarette. Eher wie Geld«, hatte sie zu Ingolf gesagt, bevor sie in das Schweigen fiel, das andauerte bis zum Ende der Schulzeit, als die Mutter sie irgendwann nach einem Berufswunsch fragte. So war die Idee, die Schrift für alle und für jeden Zweck zu erfinden, zur fixen Idee geworden, etwas, was sie still mit sich herumtrug, ein Vorrat oder ein Mantra. Noch mit sechzehn hatte sie keine Ahnung davon, dass Schriften zu entwerfen ein Beruf war. Sie dachte, sie würde die Schrift im Geheimen erschaffen, in einer Holzhütte mitten im Wald, zum Beispiel, und wenn es dann so weit wäre, die große Sache zu den Menschen zu bringen, würde sie nicht weiter in Erscheinung treten, noch besser ungenannt bleiben für immer.
    In Kassel war sie sogleich Müller-Brockmanns Lehre des typografischen Gitters verfallen, eine Flamme, die Weingart behutsam abregelte. Zwischen Ordnung und Starrsinn bestand definitiv ein Unterschied. Weingart führte sie sanft, aber bestimmt zu den beständigeren Dingen, der Arbeit am Bleisatz, der Darstellung des einzelnen Buchstabens, der Kalligrafie, ahnend, dass sich hinter Marleen Schullers Beharrlichkeit ein dramatisches Temperament verbarg, der Wunsch, den Vorhang wegzureißen, um etwas Ungeahntes zu schauen. Er wollte sie nicht durch eine große Enttäuschung verlieren. Sie sollte langsam begreifen, dass hinter dem Vorhang nichts anderes lag als eine Bühne – aber auch hier wurde gespielt! Wie leicht konnte man im Irrgarten der Schriften den Mut verlieren. Franz hielt das Ganze für einen Bluff, Esme hielt es für biederes Handwerk, Hagen Kluess für den Schlüssel zum Porsche, und Marleen war nicht selten wütend auf Weingart, weil er ihr keine Antwort gab, weil er ihr nicht sagte, warum die Dinge auf der Welt so lagen, wie sie lagen. Weingart war der Torwächter auf der Schwelle von Wunsch und Wirklichkeit.
    Marleen war gewiss nicht seine erste begabte Studentin. Immer wieder hatte er beobachtet, wie sich gerade die Begabten an der Hochschule und ihren Ritualen aufrieben und oft, bevor sie in den Beruf eintraten, innerlich schon aufgegeben hatten. Deshalb beschloss er, als Stüssi Nachwuchs suchte, Marleen in eine Typowerkstatt zu schicken, die er, Weingart, für eine der besten in Europa hielt. Furrer, aus der Ferne, ohne sie zu kennen, baute ihr die Brücke zu den Jaccottets. Für Marleen war nun Paris alles und Kassel nichts. Hier hatte Passeraub die Tempi Novi auf den Weg gebracht, und sie würde sich davon nicht erdrücken lassen, von der Größe dieses Mannes, sondern ihm zuarbeiten, bis das Projekt vollendet wäre: das der Schrift, die alles konnte, aber letztlich unsichtbar blieb.
    Marleen ging auf dem Weg zur Arbeit, im Dezember, kurz zur Apotheke mit dem blinkenden Kreuz, das weckte Vertrauen, da musste man sich keine Sorgen machen. Irgendwie hatte sie erwartet, die Probe zurückzubekommen, vielleicht mit einem farbigen Papierchen darin. Stattdessen bekam sie einen kleinen, braunen Umschlag, den sie auf der Straße aufriss, wo sie unter einem Himmel von Vorahnungen stehenblieb. Es kam ihr vor, als wäre die Nachricht – das Kreuz an der falschen Stelle des Formulars: nicht nicht schwanger, sondern schwanger – riesig auf die nächstliegende Mauer projiziert. Eine bleierne Hand griff nach ihr, packte sie an den Haaren, ein Gör, ein lästiges Mädchen, ein Dreck: Du bist nicht das, was du denkst, das du bist; du bekommst nicht, was du willst; du bekommst, was du nicht willst. Und selber schuld bist du sowieso.
    »Ça va?«
    Da hatte doch wirklich eine Pariserin im Kostüm angehalten, ihren Regenschirm leicht nach hinten gestellt und Marleen gefragt, ob sie helfen könne. Sich schließlich verwundert abgewandt, als sie keine Antwort bekam. Jemand aus der Klapsmühle, dachte Madame vielleicht, also Vorsicht!
    Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Marleen das Gefühl, völlig allein zu sein. Sie wusste einfach nicht, wen sie um Rat fragen konnte. Sie schrieb an den Konvent in Hamburg, das schon, aber es kam keine Antwort, nicht innerhalb einer Woche, und Marleen wusste, dass sie nicht würde warten können. Um, wie sagt man, eine soziale Indikation zu bekommen oder den Balg loszuwerden. Sie ging nicht mehr so flott. Ann sah das, Pierre schaute väterlich drüber hinweg; sein Instrument war das Cembalo. Marleen war in Frankreich nicht krankenversichert. Mama hatte sie gewarnt, in Kassel immatrikuliert zu bleiben. Mein Gott, so ein blutiges Dingens,

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