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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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Behördlichen, in der Werbung, da gab es keinen Unterschied. Der Mensch wurde beschenkt durch Lesbarkeit, denn Lesbarkeit war demokratisch, für alle, für alle aufgeklärten Menschen, die, wenn sie nur radikal genug wären, kollektiv zur Kleinschreibung wechseln würden: kleinschreibung, flattersatz, raster, demokratie. Und so weiter, Furrer hielt noch immer solche Reden, wenn man ihn ließ, Kunstgewerbeschule 1962, diese Lektion würde ihn nie mehr verlassen. Der Abstand zu dem, was er im Atelier wirklich entwarf, war bereits groß und wurde größer, denn Niklas Furrer war ein Spieler, ein Zeichner, ein Mann der täglichen kleinen Freuden, Ausnahmen und Doppeldeutigkeiten, daher diese eulenhaften, warmen Augen. Man verstand seine Scherze kaum, er nuschelte etwas zwischen Hochdeutsch und Dialekt. Alles, was man an ihn herantrug, wurde sogleich Gestalt, in der Mittagspause auf Papierservietten gekritzelt. Er konnte Buchstaben zeichnen, die gähnen, und Buchstaben, die winken. Deshalb liebten ihn prosperierende kleine Firmen, deren Signets er aus dem Ärmel schüttelte, überhaupt nicht mehr Schweizer Schule.
    Es häuften sich Anfragen von Boutiquen aus der Rue Mouffetard. Die jüngste hatte sich auf schmal geschnittene, schwarze Kleidung, glänzende Stiefeletten und nietenbesetzte Gürtel kapriziert, halb London, halb Tokio: Tête sollte sie heißen. Furrer ließ das Schreiben der Eigentümer, mit einer Fotokopie des ersten Warenkatalogs und einem Foto des Geschäfts – Fensterfronten links und rechts einer stählernen Tür –, auf Marleens Schreibtisch liegen. Sie dachte eine Weile über das Wort nach und fand heraus, es lief wie »Otto«,vorwärts wie rückwärts, bis sie ihren Lesefehler bemerkte. Es war die Doppelung einer Silbe, mit dem Schönheitsfehler des Dachs über dem ersten »e«. Das Dach war aber gut, verstanden als Giebel. Sie probierte. Bei Furrer hatte sie sich abgeschaut, wie man das machte, Varianten schnell nebeneinander setzen und nichts korrigieren. Ihr geriet das Dach zu groß, so dass es einen Stützbalken brauchte, das ergab zusammen das T, ein Häuschen. Sie ließ die beiden »e«s drunterschlüpfen wie Tauben. Das ergab zwar nicht das Wort »Tête«, aber ein kompaktes Symbol. Am nächsten Morgen führte sie es im Detail aus und brachte es zu Furrer.
    »Ist sehr schön geworden«, sagte der und zeigte es Alain, der raten musste, was es darstellte – »Keine Ahnung!« –, durchgefallen. Marleen musste wieder ran und setzte das Wort TETE als schmales Band darunter. Furrer zeigte es Stüssi.
    »Das ist schon gut, aber sie verkaufen weder Dächer noch Zelte. Es sieht zu häuslich aus, und auch ein bisschen witzig. Ich glaube, diese Punker nehmen sich schrecklich ernst. Da ist nichts mit lustig. Vor allem muss es wichtiger aussehen, als es ist. Konzernformat. Wie Fiat oder Sony.« Marleen fragte, ob sie den Entwurf an Furrer zurückgeben könne, und der: »Warum das?« Sie wusste nicht warum und blieb also dran.
    Unbeschäftigt zu sein oder auch nur zu wirken kam in diesem Betrieb nicht in Frage. Der pausbäckige André mit seinen Versuchen über Western-, Halbwelt- und Jahrmarktsschriften; Wendelin, wie er belichtete Entwürfe mit einer riesigen Lupe prüfte (»Das nenne ich aber nicht randscharf!«); Fränzi, die, wenn sie nicht telefonierte, mit der Kugelkopfmaschine Rechnungen hämmerte. Marleen wäre in der Tat gern, jedenfalls einmal am Tag, im Atelier herumspaziert, um jedem über die Schulter zu schauen und zu fragen, ob es vorangehe (und vor allem was!). Dafür hätte sie Praktikantin oder Boss sein müssen, Praktikanten aber gab es in dieser Werkstatt nicht.Marleen war gezwungen, ihren verfrühten Eintritt in die calvinistische Geschäftigkeit als Vorteil zu betrachten; ein Jahr Arbeit, ein Jahr Gehalt, das war die Abmachung. Fränzi gab den Angestellten (nicht den Teilhabern) am letzten Freitag jeden Monats Cheques aus, die Stüssi, und wenn Stüssi auf Reisen war, Passeraub selbst, unterzeichnete. Dessen Signatur war fahriger, als man für möglich hielt.
    Die Tempi Novi in Ultrafett zu übersetzen, war für Marleen ein kurzes Abenteuer gewesen, ein Stochern in der Grammatik des Buchstabens, das sie komplett in Anspruch nahm, so sehr, dass sie sich selbst vergaß. Leider war die Aufgabe jetzt erledigt, und Passeraub zeigte keine Neigung, sie weiterhin mit ungeliebtem Kniffligen zu beschäftigen. Einmal hatte sie eine Eingebung und dachte, sie müsste einfach eine halbe Stunde

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