Nichts Weißes: Roman (German Edition)
früher kommen, ihren Schreibtisch in Passeraubs Arbeitszimmer verfrachten und dann sich weigern, wieder abzuziehen. Johanna hätte das so gemacht.
So kam es, dass die corporate identity für Kleinstunternehmer in ihre Nische spülte, zwei Aufträge pro Woche und mehr. Buchstaben in Logos zu zwingen kam ihr vor wie Kindergarten für Hochbegabte. Erwünscht war eine bestimmte Mischung von Artigkeit und Rabaukentum, Analphabetismus und Bilderrausch. Man konnte sich darin nicht versenken wie in die echte Typografie, die Konstruktion von Alphabeten. Denn Logos und Signets brauchten Ideen, der Spleen war gefragt, die Montage nur noch Technik. Es war Niklas Furrer gewesen, der bemerkt hatte, dass Marleen, bei aller Strenge, ein Händchen für so etwas hatte.
Einen Nachmittag nahm sie sich frei, um das Ladengeschäft von Tête zu besichtigen. Die Gründer waren kaum älter als sie selbst. Einer hatte sich eine Silbernadel durch einen Nasenflügel gesteckt. Die Couturière trug einen ledernen Minirock, am unteren Ende gesäumt mit Ösen rundherum. DasLadenlokal war fast fertig, die Oberflächen wurden geschliffen. Erst jetzt begriff Marleen – hatte sie den Auftrag nicht Satz für Satz gelesen? –, dass es nicht nur um Geschäftspapier und Einkaufstüten ging, sondern auch um das Schild über dem Eingang, das sich die Clique, euphorisch, als emaillierten Klotz vorstellte, der zur Straße querstehen würde. Aber was hieß schon Schild:
»Das muss stehen wie ein Messer!«
»Wie eine Kamera, die die ganze Straße erfasst.«
»Das Ding muss so sexy sein, dass die Leute phantasieren, sie würden bei Nacht wiederkommen und es abmontieren.«
Das waren die Vorstellungen der Belegschaft, die ausschließlich aus Chefs bestand, alle in schwarzer Kleidung, schmal geschnitten, mit Nieten und Ösen.
Marleen fragte: »Seid ihr so was wie Punks?«
Grinsen: »Wieso, kotzen wir auf die Straße?« (Der junge Mann flüsterte fast!)
»Nous sommes New Wave«, sagte die Lady, wobei die englischen Worte klangen, als kämen sie durch eine Düse.
Marleen übernahm die Kinder gegen sieben und hatte sie gegen halb acht im Bett, dann Janosch, dann ihr Atmen, halb weggeschluckt vom Rauschen der Straße da unten, und das Tick-tick war die untaugliche Leerrille einer Platte, die die Jaccottets vor dem Weggehen gehört hatten.
Sie setzte sich an den Küchentisch, nahm Notizblock und Kuli und zeichnete ihren Entwurf nach, das Dach über den beiden »e«s links und rechts. Weg damit. Variante: nur ein ê, das Dach riesig. Dach ist Kopf, Kopf ist Dach! Ihrer Mutter würde das gefallen. Weingart würde sagen, das ist gut gefühlt. Glaubte Marleen. Im nächsten Moment kam es ihr kindisch vor.
Sie sah sich die Küche an, die saubere Kollektion der Messer, das geprägte Firmenlogo auf der Kühlschranktür, diealtertümliche Riffelung des Transistorradios. Sie machte die Runde zu den Betten der Kinder: Katie schlummerte unter den Blüten ihres Bettzeugs; David schnaufte in inniger Umarmung mit dem Bärli.
Als sie in die Küche zurückkam, sah sie das gerahmte Bild. Nie zuvor hatte sie es beachtet. Es war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme als Poster, der Name des Fotografen darunter feierlich ausbuchstabiert. Es zeigte einen Jungen, der fröhlich, von zwei gleichaltrigen Mädchen beobachtet, eine Kopfsteinpflastergasse hinuntersprang, unter dem Arm ein Baguette. Sie trat näher heran. An der Hausecke war sogar das Straßenschild zu erkennen: Rue Mouffetard. Plötzlich war sie hellwach.
Auf dem Kühlschrank lag ein Baguette im Halbschatten, das in der typischen Weise schnabelte. Marleen setzte sich an den Tisch und zeichnete den Bogen nach. Das gefiel ihr, wie das abhob. Sie ergänzte das schwebende Dach mit einem vertikalen Balken zum »T«. Darunter schob sie wieder die beiden »e«s. Jetzt war es kein Haus mehr und kein Kopf – die Figur eines Athleten, vielleicht. Schön, aber noch nicht zu entziffern. Sie stellte das »eTe« auf ein Rechteck, ein Band, in das sie den vollen Namen in breitgezogenen Lettern setzte, im Negativ. Das tiefschwarze Band verwandelte sich in eine Straße, auf der ein Athlet sich näherte. Sie musste an die Zeichnung einer schwarzen Katze denken, die sich mit hochgestelltem Schwanz vom Betrachter entfernt, auf der Jagd. War das nicht auch ein Motiv aus Paris? Marleen erlaubte sich ein Glas vom Roten. Sie aß vom Baguette. Als die Jaccottets zurückkamen, war sie über ihren Entwürfen eingeschlafen.
»Ein wenig rätselhaft
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