Nichts Weißes: Roman (German Edition)
viel aus Schriften an Wänden. Sie kam sich durchsichtig vor, als könnte man in ihrem Leib den fischstummen Embryo mit den riesigen Augen sehen, so wie auf den schwedischen Fotografien. Sie fühlte sich überhaupt angeschaut, von Passanten, Kollegen, Boten, als stünde ihr das Geheimnis, das Geheimnis der Erwachsenen, auf die Stirn geschrieben. Sie selbst beobachtete nun die anderen Frauen mit den gespannten Bäuchen, was ihr bisweilen ein verschworenes Lächeln einbrachte, das sie, so gut es ging, erwiderte. Aber es wurde dadurch nicht besser. Sie vermisste Franz Tag und Nacht.
Sie wurde von grausamen Träumen heimgesucht, als würde sie einer Inquisition unterzogen. »Du bist doch schwanger«, sagten sie.
»Ja«, erwiderte sie, »ich bin schuldig geworden.«
»Du träumst von einer eigenen Schrift, nicht wahr?«
Sie schwieg.
»Sprich!«
»Aber ich will doch nur …« Jemand verpasste ihr eine Ohrfeige.
»Du willst sein wie Passeraub! Du dummes Luder!«
Schweißnasses Erwachen.
Passeraub hatte lateinische Schriften studiert und sie nachahmend in Stein gehauen. Er hatte sie in Holzblöcke geschnitzt und von Hand gestempelt. Er hatte den Bleisatz erlernt und schnell beherrscht – schneller als das Auge, wie Furrer sagte. Und dann war er, seine ganze kleine Schweizer Handwerkswelt hinter sich lassend, nach Paris gegangen, um mit Terreau & Racine Schriften für den Fotosatz zu entwerfen, schon die Kosmos ein Universum. Der Fotosatz war damals eine große Erfindung gewesen, eine Maschine, die Buchstaben so schnell auf einen Film blitzte, wie man die Tastatur zu bedienen wusste. Eigentlich nur ein Kasten mit Linsen und Prismen; Mikroskop, Kamera, Dunkelkammer, Telex, alles zugleich, aber nicht zu verstehen, weil lichtdicht verschlossen. Die Schriften mochten darin wohl in Trommeln oder auf Rädchen rotieren, eine Art Jukebox der Lettern. Passeraub hatte die Dimension der Erfindung begriffen: dass man in diesen Apparat alles hineinpacken konnte, was man wollte – Schriften aufgehoben in einer stufenlosen Matrix für alle Zwecke. Der Fotosatz wurde unvermeidlich, eingesetzt in allen Zeitungen, Agenturen, Satzbetrieben und Druckereien, vor allem, weil man den Schriftenfilm mit Fotofilm kombinieren konnte. Terreau & Racine, ehemals eine Schriftgießerei, lieferte nicht mehr Lettern, sondern Bilder von Lettern, Negative, miniaturisierte Archive. Da erschienen die ersten Lochkartenmaschinen wie Saurier im Vergleich. Fast dreißig Jahre lang hatte es so ausgesehen, als wäre der Fotosatz unschlagbar effizient.
Die Insolvenz von Terreau & Racine, wenige Jahre vor Marleens Eintritt ins Atelier, hatten Passeraub, Furrer und Stüssi überlebt. Bald war Passeraub – wie ein Phönix aus der Asche, sagte Furrer – bei den International Office Machines unter Vertrag genommen worden. Während Millionen von Sekretärinnen, Setzern, Grafikern und Korrektoren mit den Systemen kämpften, einsam wurden, verlacht, gekündigt, hatte Passeraub sein Handwerk und seine Weisheit hier zusammen- und dort wieder ausgepackt, ein Wanderer, ein Schlitzohr, mit allen Wassern gewaschen.
»Nun starren Sie doch nicht auf das Ding«, hatte er einmal zu Marleen gesagt. Sie hatte ihn nicht einmal fragen müssen, was er meinte, es wäre ohnehin sinnlos gewesen. Er hätte eseinfach wiederholt, möglicherweise sogar im Dialekt und mit einem Blitzen in den Augen. Sie hatte ihn beobachtet in den folgenden Tagen, bis sie begriff, dass er nicht wirklich Buchstaben betrachtete, sondern das, was sie umgab, und das, was sie aussparten – so wie die besten Fotografen im Sucher ihrer Kamera das Negativ sehen, im Weißen das Schwarze.
Passeraub, auf seine kauzige Weise, hatte ihr die Tür geöffnet, hinter der sich alles, aber auch wirklich alles, als Gegenteil des Konkreten zeigte, als Spiegelung, Hohlraum, Fläche, Verhältnis von zu; und die Buchstaben waren nicht mehr als Gäste darin, den einen Tag herzlich aufgenommen und den anderen Tag gleichgültig rausgeworfen. Es gab keinen Grund, Buchstaben zu lieben. Es gab auch keine schönen Buchstaben und keine hässlichen, nur eine Folge von richtigen oder eine Folge von falschen, und Passeraub sagte immerzu ja und nein, dazwischen war nichts, einfach gar nichts.
In diese Lage hatte er sich gebracht aus eigener Kraft. Was mit zwei Händen zu machen war, hatte er getan; für den Rest gab es immer kluge Helfer, ständige und flüchtige. Alain nannte ihn scherzhaft »Passé«, weil es Passeraub gleichgültig
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