Nichts
Monaten auf diese Ausnahmesituation eingestellt - den reibungslosen Ablauf einer mittelalterlichen Lebensform - stehen wir erneut vor einer Entscheidung, die tiefe Einschnitte für alle Beteiligten in sich birgt. Um ehrlich zu sein; ich will nicht! Ich kann nicht sein ohne Julie, ohne Leann, Charlize und auch nicht ohne Stephan. Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich sie alle liebe. Verehre! Sie sind das Blut in meinen Adern. Ohne meine Familie bin ich nichts! Allein bei dem Gedanken sie verlassen zu müssen, sei es auch nur für einige Wochen, treibt mir Wasser in die Augen. Leann unterbricht die bedrückende Stille.
„Ich weiß nicht so richtig, ob ich überhaupt das Recht habe, hierbei mitzureden.“
„Oh doch Schatz…“, räume ich ihre Zweifel aus.
Schatz? Ich glaube, sie noch niemals so genannt zu haben. Wieso müssen immer erst schwere Zeiten anbrechen, um einander näher rücken zu können?
„Wir sind eine Familie, keine Hierarchie. Ohne Gleichberechtigung haben wir in Zukunft nicht die geringste Chance. Wenigstens das hat unsere ach so fortschrittliche Zivilisation doch eindrucksvoll bewiesen!“
Ich zögere für eine Sekunde. Muss deutlicher werden…
„Außerdem ist mir deine Meinung wichtig. Sehr sogar!“
„Schön. Das freut mich. Wirklich! Also dann würde ich sagen, dass du es versuchen solltest. Wenn die Sache echt so wichtig ist, dann musst du es auch machen. Meine Meinung! Vielleicht ist es ja wirklich unsere letzte Chance…“.
„Genau das hab ich mir auch schon überlegt.“, ergänzt Julie. „Wenn das der Preis ist - für eine faire Zukunft der Kleinen da drin - dann soll es so sein. Wir sind es ihnen schuldig! Oder willst du dir vorstellen, dass sie hier draußen Alt werden?“
„Ihr wollt mich unbedingt loswerden!? Austauschen, was? Mit einem Jüngeren… jetzt wird mir alles klar.“, scherze ich beklemmt.
Doch mir ist nicht nach scherzen zumute. Keinem ist im Moment danach zumute. Wieder minutenlang schwüle Stille…
„Es ist doch so…“
Erneut ist es meine Tochter, die den Mut aufbringt, unsere Ohnmächtigkeit zu durchbrechen.
„Mama und ich haben die Lage hier voll unter Kontrolle. Im Notfall kann ich sogar die Pumpe oder den Inverter reparieren. Außerdem glaube ich, können wir den Soldat für die Gartenarbeit gut brauchen. Macht ’nen fixen Eindruck der Junge.“
„Oh Leute! Ich weiß nicht…“, quält mich Zwiespalt.
Reizt die Herausforderung auf der einen Seite über alles, so schrecken die Umstände gleichzeitig ab. Vermute nämlich, dass hinter diesem seltsamen EINAI Projekt weit mehr steckt, als George verraten will.
„Natürlich habt ihr soweit absolut Recht. Wenn ich dabei helfen kann, die Welt… und damit uns selbst… Andererseits denke die ganze Zeit nach, wer zum Teufel so ein Projekt finanzieren kann. Irgendwas an der Sache ist doch faul! Staatliche Programme wurden vor Monaten geschlossen, nicht zuletzt, weil die Mittel fehlen oder die Energieversorgung zusammengebrochen ist… Könnt ihr euch vorstellen, wie viel Strom solche Anlagen benötigen?“
Die Zivilisation ist am Ende. Die Umwelt ist am Ende. Alles ist am Ende. Alles? Nein. Es gibt ein kleines gallisches Dorf… Muss nun doch schmunzeln.
„Darüber würde ich mir keinen Kopf machen.“, wägt Julie ab. „Möglicherweise ist es simpler als du denkst. Was soll’s, vielleicht haben die Multis ihr Gewissen und ihre Verantwortung wieder entdeckt?“
„Genau das macht mich ja stutzig!“
„Haben wir denn Alternativen?“
Leann hat Recht. Es muss was passieren und zwar schnell! Und wenn ich Georges Angebot nur annehme, um mir das Ganze mal etwas näher anzuschauen. Eine derartige Forschungsanlage braucht Infrastruktur. Wasser, Lebensmittel, anständige Unterkünfte, soviel ist sicher. Womöglich gibt’s ja doch einen Weg… Okay, wir kommen hier halbwegs zurecht. Müssen nicht hungern oder verdursten. Noch nicht! Aber was wird in ein oder zwei Jahren? Verschließe ich nicht die Augen vor einer schrecklichen Wahrheit? Eremiten konnten früher vielleicht noch existieren, in einer intakten Natur und ohne Kinder. Und selbst dann war es vermutlich noch schwer genug. Wenn wir hier bleiben, werden wir untergehen. Früher oder später untergehen. Es muss sich also was verändern. Dringend. Und wenn ich es bin, der diese Veränderung herbeiführen kann, warum nicht.
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