Nick Stone - 02 - Doppeltes Spiel
fragen. Er war als Jugendlicher zum Militär gegangen, hatte in der 82nd Airborne und bei den Special Forces gedient, war dann in den Secret Service des US-Schatzamts eingetreten und hatte dem Washingtoner Team angehört, das den Vizepräsidenten beschützte. Er wohnte in dem Neubaugebiet, in das Kellys Vater mit seiner Familie gezogen war, und hatte Kevin persönlich gekannt – nicht von der Arbeit her, sondern weil ihre Kinder in dieselbe Schule gingen.
Neben Josh standen drei Kinder, die sichtlich Mühe hatten, den Akzent des Bootsmanns zu verstehen. Für sie war dies die letzte Etappe ihrer Europareise während der Osterferien. Kelly und ich hatten sie erst gestern vom Eurostar aus Paris abgeholt; sie würden ein paar Tage mit uns Sehenswürdigkeiten
besichtigen, bevor sie nach Washington zurückflogen, und Kelly genoss ihren Besuch. Das freute mich, denn dies war das erste Mal, »seit es passiert war«, wie wir sagten, dass sie die anderen wiedersah. Insgesamt ging es ihr im Augenblick ziemlich gut, und sie schien ihren Schock allmählich überwunden zu haben.
Der Blick des Bootsmanns glitt unsere Reihe entlang. »An Bord lernt ihr, die Kanonen zu bedienen, und ihr lernt, wie man Segel setzt und Enterversuche abwehrt. Aber noch besser wird euch gefallen, dass wir auf Schatzsuche gehen und Shantys singen!« Die Mannschaft wurde ermutigt, in bester Seemannstradition zustimmend zu johlen.
Plötzlich bekam unser Geschrei Konkurrenz, als das erste Touristenschiff, das an diesem Tag die Themse hinunterfuhr, seine Sirene ertönen ließ, bevor eine Lautsprecherstimme den Fahrgästen die London Bridge erläuterte.
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Ich sah zu Kelly hinunter. Sie zitterte fast vor Aufregung.
Mir machte die Sache auch Spaß, aber ich kam mir ein bisschen komisch vor, weil ich in aller Öffentlichkeit in dieser seltsamen Aufmachung auf einem Segelschiff stand, das südlich der London Bridge festgemacht war. Um diese
Tageszeit waren auf der schmalen gepflasterten Straße entlang der Themse noch Büroangestellte unterwegs, die auf dem Weg zur Arbeit Taxis und Lieferwagen ausweichen mussten. Die Züge, mit denen sie gekommen waren, rollten ungefähr zweihundert Meter von uns entfernt auf Hochbahngleisen langsam in Richtung Themse zurück.
Der Olde Thameside Inn , ein Pub in der Nähe unseres Liegeplatzes, stammte angeblich aus der Zeit Shakespeares, war aber in Wirklichkeit erst vor ungefähr zehn Jahren bei der Umwandlung der Docks in ein Touristenviertel erbaut worden.
Auf der Terrasse mit Blick über den Fluss drängten sich Büroangestellte, die sich im Coffee Shop ein spätes Frühstück geholt hatten, mit ihren Plastikbechern und Zigaretten, um die Morgensonne zu genießen.
Ich wurde ins 16. Jahrhundert zurückgeholt. Der Bootsmann machte eine Pause und starrte Kelly theatralisch an. »Bist du eine Drückebergerin?«
»Nein, Sir, nein, Sir!« Kelly drängte sich ein wenig näher an mich, um Schutz zu suchen. Sie hatte noch immer etwas Angst vor Fremden, vor allem vor fremden Männern.
Der Bootsmann grinste. »Nun, ich sehe, dass ihr eine besondere Mannschaft seid, und weil ich weiß, dass ihr fleißig arbeiten werdet, kriegt ihr jetzt eure Rationen. Es gibt Seemanns-Nuggets und Coke.« Er riss die Hände hoch.»Na, was sagt ihr?«
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Die Kinder kreischten los: »Aye, aye, Sir!«
»Ich höre nichts!«, blaffte er. »Was sagt ihr?«
»AYE, AYE, SIR!«
Der Bootsmann und das übrige Schiffspersonal führten die Kinder zu den aufgestellten Tischen. »Die kleinen Matrosen zuerst«, ordnete er an. »Die großen Matrosen, die euch hergebracht haben, können noch warten.«
Kelly lief zu Joshs Kindern hinüber: zu den Mädchen
Dakota und Kimberly, die elf und neun waren, und ihrem Bruder Tyce, der acht war. Sie waren hellhäutiger als Josh –
ihre Mutter war eine Weiße –, aber ansonsten sahen sie genau wie ihr Vater aus, nur dass sie noch Haare hatten. Was nur gut war, fand ich.
Josh und ich wandten uns ab und blickten übers Deck auf die Themse hinaus. Josh erwiderte das Winken einiger Touristen auf dem Schiff, das entweder uns oder den
Kaffeetrinkern galt, die sich noch immer links von uns drängten.
»Wie kommt sie zurecht?«, fragte er.
»Allmählich besser, Kumpel, aber ihr Therapeut sagt, dass sie noch viel Zeit braucht. Das beeinträchtigt ihre Leistungen in der Schule – sie hinkt weit hinterher. Ihr letztes Zeugnis war echt beschissen. Sie ist ein intelligentes Mädchen, aber sie kommt mir wie ein Eimer
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