Nick Stone - 02 - Doppeltes Spiel
bewusst dazu, keine weiteren Vermutungen anzustellen; sie hatten nichts mit dem Befehl zu tun, den ich erhalten hatte, und ich würde vermutlich ohnehin zu den falschen Schlussfolgerungen gelangen. Eines stand jedenfalls fest: Dieser Auftrag war mir zuwider.
Der Regen war stärker geworden. Ich zog die Kapuzenkordel fester zu, damit am Hals nicht noch mehr Wasser hereinlief. Es war verdammt kalt geworden. Ich konzentrierte mich jetzt darauf, meinen Auftrag zu analysieren und die Faktoren, die sich auf ihn auswirken konnten, nüchtern zu bewerten. Nur so konnte ich den Auftrag ausführen und anschließend eine Chance haben, unerkannt zu entkommen. Nahm ich mir vor, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu ermorden, konnte mich niemand daran hindern - schwierig wäre es nur gewesen, mit heiler Haut davonzukommen.
Als Erstes musste ich meinen Auftrag richtig verstehen. Was wurde von mir verlangt? Ich teilte den Auftrag in zwei Teile auf: Erstens sollte ich Sarah bis morgen früh fünf Uhr aus diesem Haus entführen; der zweite Teil - der T104 - war vorerst nicht so wichtig. Außerdem hatte ich dafür bereits einen Plan.
Den ersten Teil des Auftrags unterteilte ich in fünf Phasen: erstens, Annäherung ans Haus; zweitens, Eindringen ins Haus; drittens, Sarah finden; viertens, mit Sarah das Haus verlassen; fünftens, mit Sarah die nähere Umgebung des Sees verlassen.
Als Nächstes musste ich analysieren, was mich daran hindern könnte, diese fünf Phasen in die Tat umzusetzen. Das erste Hindernis waren logischerweise die Männer, mit denen sie zusammen war. Fünf Männer waren verdammt viele Gegner - und ich wusste nicht einmal, ob sich im Haus noch weitere aufhielten, die sich bisher nicht hatten blicken lassen. Was hatten sie vor? Das mochte der Teufel wissen. Jedenfalls waren sie nicht zum Kanufahren hier, das stand fest. Offenbar war das Haus ihr Treffpunkt. Folglich würden sie irgendwann von hier verschwinden, und vielleicht musste Sarah deshalb vor fünf Uhr morgens rausgeholt werden, weil sie nicht mehr lange hier sein würden.
Die nächste Frage: Wie stand es um ihre Taktik, Ausbildung, Führerschaft und Kampfmoral? Darüber konnte ich nur Vermutungen anstellen. Geführt wurden sie bestimmt gut; Sarah würde die Gruppe selbst führen, und falls ein anderer die Führung hatte, musste er gut sein, weil sie sonst nicht mit ihm zusammengearbeitet hätte. Ihre Kampfmoral schien in Ordnung zu sein: Sie wirkten zuversichtlich bei dem, was sie taten - was immer das sein mochte. Solche Zuversicht kann zu neunzig Prozent auf Dämlichkeit und völliger Unkenntnis der Voraussetzungen eines Unternehmens und nur zu zehn Prozent auf guter Ausbildung und Vorbereitung beruhen. Sarah hätte sich jedoch mit keiner Gruppe abgegeben, deren Zuversicht nicht durch handfeste Fähigkeiten untermauert wurde.
Welche Fähigkeiten besaßen sie? Und waren sie bewaffnet? Das wusste ich nicht. Aus eigener Erfahrung kannte ich nur Sarah und ihre Arbeitsweise: Ich wusste, dass sie professionell, skrupellos und zielstrebig war und nicht davor zurückschreckte, Gewalt anzuwenden. Schaffte ich es, ins Haus einzudringen, und sie sah mich, bevor ich sie entdeckte, würde sie mich umbringen, wenn es sein musste. Sie würde kämpfen, statt sich zu ergeben. Eigenartigerweise bedeutete das, dass ich mir ihretwegen weniger Sorgen machte, weil sie berechenbar war. Aber die Kerle ... von denen wusste ich nicht, ob und womit sie kämpfen würden. Folglich musste ich das Schlimmste annehmen; es macht sich immer bezahlt, Gegner als überlegen einzuschätzen und entsprechend zu planen.
Dafür reichten meine Informationen eigentlich nicht aus, aber das war nichts Neues. Dies würde nicht mein erster Einsatz mit völlig ungenügender Vorbereitung sein. Ich war nur sauer, weil ich Sarah eindeutig identifiziert hatte. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn mir das nicht gelungen wäre. Vielleicht. Ich merkte, dass ich im Stillen hoffte, alle hier Anwesenden würden innerhalb der nächsten Stunden abhauen. Dann hätte ich nur versuchen können, ihre Fährte erneut aufzunehmen.
Ich rief mir nochmals alles ins Gedächtnis, was ich bisher gesehen hatte, um vielleicht auf etwas zu stoßen, das mir entfallen war. Das menschliche Unterbewusstsein ist wundervoll, weil es nichts vergisst, was man jemals gesehen oder gehört hat. Jedes Bild, jeder Laut und jede bruchstückhafte Wahrnehmung sind irgendwo gespeichert - man braucht sie nur wieder hervorzuholen.
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