Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
Sie schrien und brüllten, während sie mit ihren schwarzen Schlagstöcken wahllos auf die Stadtstreicher einprügelten. Für die Obdachlosen von Tallinn war dies offenbar das Wecken. Es hatte jedenfalls viel Ähnlichkeit mit einigen Weckmethoden, die ich beim Militär in der Grundausbildung kennen gelernt hatte.
Ich reagierte auf den Wink, indem ich mich langsam aufrappelte. Mein ganzer Körper schmerzte. Ich sah bestimmt wie ein Neunzigjähriger aus, als ich gemeinsam mit den anderen aus dem Bahnhofsgebäude schlurfte, und konnte nur hoffen, dass meine Muskeln bald warm wurden, damit die Schmerzen etwas abklangen.
Die eiskalte Morgenluft brannte auf meinem Gesicht und in meiner Lunge. Es war noch immer stockfinster, aber ich hörte jetzt viel mehr Betrieb als bei meiner Ankunft. Rechts von mir lag eine Hauptstraße mit noch spärlichem Verkehr. Die einzelne Straßenlampe auf dem Vorplatz brannte so schwach, dass sie sich die Mühe hätte sparen können. Vor dem Eingang parkten fünf sehr große, auffällig saubere schwarze Geländewagen, vermutlich Land Cruiser. Auf ihren vorderen Türen prangte das dreieckige weiße Abzeichen, das ich schon auf den Rücken der Bomberjacken der Polizeibeamten gesehen hatte. Um mich herum wurde noch viel gebrüllt und gestritten, und ich sah, wie meine drei Freunde aus dem Debattierklub hinten in eines der Fahrzeuge geworfen wurden. Vielleicht kamen die Schrammen daher.
Ich ging weiter und erreichte die andere Seite des Gebäudes, auf der ebenfalls Leben herrschte. Bei der Ankunft war mir das nicht aufgefallen, aber hier befand sich ein Busbahnhof. Auf der großen freien Fläche standen Wartehäuschen und schrottreife, vollkommen verdreckte Busse. Vom Heck einiger Fahrzeuge stieg Auspuffqualm auf. Die in den Schlangen hinten wartenden Leute riefen den vorn Wartenden etwas zu - vermutlich eine Aufforderung, sich mit dem Einsteigen zu beeilen, bevor sie erfroren. In den Gepäckabteilen wurden Koffer, Holzkisten und mit Bindfaden verschnürte Pappkartons verstaut. Die Fahrgäste schienen überwiegend alte Frauen zu sein, die zu schweren Mänteln Strickmützen und riesige Filzstiefel mit Vorderreißverschluss trugen.
Das einzige Licht kam aus dem Bahnhofsgebäude und von den Busscheinwerfern, deren Licht sich auf dem vereisten Boden spiegelte. Wie aus dem Nichts tauchte eine Straßenbahn auf und rumpelte im Vordergrund vorbei.
Das Bahnhofsgebäude, dessen Bürofenster im ersten Stock teilweise mit Brettern verschalt waren, war mit einer jahrzehntealten Schmutzschicht bedeckt. Nicht nur der Bahnhof, sondern seine gesamte Umgebung wirkte heruntergekommen und verwahrlost. Die Hauptstraße war mit Schlaglöchern übersät, und an vielen Stellen hatten sich Asphaltschollen gebildet, so dass die Autos unterschiedliche Fahrbahnniveaus bewältigen mussten.
Die Männer in Schwarz waren mit ihrer Arbeit fertig. Einige der Stadtstreicher zogen in einer Gruppe über die Straße - vielleicht zur nächsten warmen Unterkunft -, während andere auf dem Busbahnhof zu betteln begannen. Standen sie dort neben den wartenden Fahrgästen, war schwer zu unterscheiden, wer ärmlicher aussah. Alle waren mit Tragetaschen beladen, nicht nur die Obdachlosen, sondern auch die Einsteigenden. Kein Einziger lachte oder lächelte wenigstens. Diese Leute taten mir Leid - vom Kommunismus befreit, aber nicht von der Armut.
Ich wartete, bis die schwarzen Teams wieder in ihre Geländewagen gestiegen und davongeröhrt waren, dann schlenderte ich in den Bahnhof zurück. Auch nach der
Vertreibung der Penner roch es hier nicht besser, aber im Gebäude war es wenigstens warm. Ich hatte das Bedürfnis, etwas für mein Aussehen zu tun. Nach längerem Suchen fand ich eine Toilette, wusste aber nicht, ob sie für Männer oder Frauen war. Sie bestand nur aus ein paar WC-Kabinen und zwei unbeschreiblich verdreckten Waschbecken, über denen eine schwache Glühbirne flackerte.
Ich beschloss, aufs Waschen zu verzichten, und betrachtete mich im Spiegel. Wider Erwarten war mein Gesicht nicht geschwollen und wies auch keine sichtbaren Verletzungen auf, aber mein Haar stand in sämtliche Richtungen ab. Ich ließ Wasser laufen, fuhr mir mit nassen Fingern durchs Haar und sah dann zu, dass ich rauskam, bevor mir vom Gestank auf der Toilette schlecht wurde.
Ich machte einen Rundgang durch den Bahnhof und versuchte herauszubekommen, wann Züge abfuhren. Das Informationsangebot war reichhaltig - leider nur auf Estnisch und Russisch. Der
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